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16. Juni 2004,  07:25, Neue Zürcher Zeitung

Prätentiöses Geplätscher

Die 5. Kunstbiennale Manifesta in San Sebastian

Die europäische Kunstbiennale Manifesta wird derzeit zum fünften Mal durchgeführt - in der baskischen Küstenstadt San Sebastian. Attraktiven Ausstellungsorten und einer sorgfältigen Präsentation zum Trotz vermag die Veranstaltung nicht zu überzeugen.

Sie sehen aus wie die Pfoten einer urtümlichen Echse, heissen «Percebe» und werden in jedem Lokal von San Sebastian als Delikatesse aufgetischt. Wer diese bizarren Meeresfrüchte pflücken will, muss sich auf die Felsen in der Brandungszone vorwagen, um sie dort vom Stein zu schneiden. Werden die «Percebe» bei ruhiger See gepflückt, so haben sie kaum Geschmack - nur wenn die Wellen mit Wucht gegen das Ufer donnern, entwickelt die Gourmet-Pfote ihr volles Aroma. Auch Marta Kuzma und Massimiliano Gioni, die Kuratoren der Manifesta 5, haben sich in die Brandungszone der jüngsten Kunst vorgewagt, um neue Ideen und ästhetische Ansätze vom Stein lokaler oder nationaler Szenen zu scheiden und sie dem internationalen Publikum dieser europäischen Wanderbiennale vorzusetzen. Mehr als fünfzig Künstlerinnen und Künstler aus über zwanzig verschiedenen Ländern wurden eingeladen, eine Arbeit in San Sebastian zu zeigen, wo die Manifesta nach Kopenhagen, Luxemburg, Ljubljana und Frankfurt nun zum fünften Mal durchgeführt wird. Wer auf den Spuren dieser Kunst durch die Stadt wandelt, wird allerdings den Eindruck nicht los, dass die hier präsentierten Delikatessen wohl zu einem grossen Teil doch eher bei stiller See gepflückt worden sind.

Die Kraft der Andeutung

Zwar sind die Kunstwerke fast durchgehend sehr effektvoll und mit grosser Sorgfalt in Szene gesetzt. Auch haben sich die Verantwortlichen be- müht, möglichst originelle Orte für die einzelnen Sektionen der Ausstellung zu wählen - neben eher konventionellen Räumen wie dem Kubo- Kutxa-Kursaal oder dem Koldo Mitxelena etwa die Kirche San Telmo oder die Casa Ciriza, eine alte Fabrik im Industriehafen von San Sebastian. Alledem zum Trotz aber wirkt diese fünfte Mani- festa seltsam fade - nicht zuletzt auch, weil einem manches doch ziemlich bekannt vorkommt.

Zum Beispiel die in San Sebastian sehr zahlreichen Arbeiten, die unter Verwendung von altem Filmmaterial entstanden sind. Die Praxis des Bearbeitens und Neuarrangierens von Ausschnitten älterer Kino- und Fernsehproduktionen oder privater Videos und Super-8-Filme ist seit den neunziger Jahren stark verbreitet - hat aber immer nur dann zu überzeugenden Resultaten geführt, wenn das neue Arrangement entweder inhaltlich oder aber formal klar strukturiert war. Das aber ist in Donostia weder dem Deutschen Hito Steyerl noch Maria Lusitano aus Portugal oder Iliya Chichkan und Kyrill Protsenko aus der Ukraine gelungen. Und auch die aus einer ganzen Reihe von Projektionen und Monitoren bestehen- de Installation des Tschechen Zbynek Baladrán kommt nicht über einen sehr diffusen träumerischen Effekt hinaus. Gerade bei Künstlern aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion wie Chichkan, Protsenko oder Baladrán mag man das Bedürfnis verstehen, die eigene Geschichte etwa über Bilder aus propagandistischen Filmen der Vergangenheit aufzuarbeiten. Den in San Sebastian gezeigten Ansätzen fehlt es jedoch an Präzision: Anstatt Strukturen herauszuarbeiten, ver- trauen die Künstler ganz auf die Wirkungsmächtigkeit des historisch besetzten Bildes, die Kraft der Andeutung.

Mit Andeutungen operieren in San Sebastian aber auch jene Videokünstler, die durch mehr oder weniger rätselhafte Bilder eine betont mysteriöse Atmosphäre zu schaffen versuchen. Ein gutes Beispiel ist hier die Videoarbeit «Deer» der Russen Victor Alimpiew und Sergei Wishnewski - ein Diptychon aus zwei Projektionen. Auf dem einen Bild sehen wir eine junge Frau mit rötlichem Haar, die lustvoll im Fell irgendeines Tieres oder aber in einem Pelzmantel herumwühlt. Das zweite Bild zeigt den Kopf eines Mannes, der sich sanft an einen Kleiderhaken schmiegt. Schon die pathetische Musik lässt ahnen, dass wir es hier mit einem Moment voller Bedeutung zu tun haben müssen - auch kommt die Szene Eingeweihten wohl irgendwie «nabakovianisch» vor, wie es in dem kleinen Begleittext zu der Arbeit heisst. Doch worum könnte es gehen? Was wird uns da erzählt?

In eine ähnliche Richtung zielt auch ein Video von Anu Pennanen aus Finland: Die riesige Projektion führt uns eine blinde Frau vor, die sich bei Nacht durch das kaum belebte Aussenquartier irgendeiner Stadt tastet. Als wären die Bilder nicht schon geheimnisvoll genug, werden sie auch noch von einer Tonspur begleitet, die einem Mystery-Thriller entnommen sein könnte. Ein «Monument to the Invisible» wollte die Künstlerin mit dieser Arbeit setzen. Doch je länger wir uns mit diesem Monument befassen, desto aufdringlicher wird der Verdacht, hier werde eine Behinderung dazu missbraucht, Bilder voller diffuser Symbolik zu schaffen - Handicapierten-Kitsch sozusagen.

Generell hüllt sich vieles auf dieser fünften Manifesta in eine Aura des Geheimnisvollen - bei weitem nicht nur in der sehr prominent vertretenen Videokunst. So hat etwa Cathy Wilkes aus Irland eine Installation geschaffen, die auf einen ersten Blick an eine Baustelle oder Werkstatt erinnert. Zwischen seltsamen Konstruktionen liegen da allerlei Reste von Draht oder Metall herum, und von Zeit zu Zeit beginnen ein paar Schleifmaschinen zu rotieren. Einige Teile dieser Installation sind so klein, dass die Besucher sie regelmässig übersehen und also mit ihren Schuhen durch den Raum kicken - ohne zu murren, legt das Wachpersonal die Drahtstückchen dann jeweils wieder an ihren ursprünglichen Ort. Was so fragil ist, muss ja wohl poetisch sein - und also bleibt auch unwiderlegt, dass hier eine «Atmosphäre der Verlorenheit und spannungsvoller Erwartung» geschaffen wird.

Wer nichts spürt, ist selber schuld

Es gibt wirklich viel Rätselhaftes oder Verrätseltes zu entdecken. Und wer nun erwartet, dass einige dieser Rätsel etwa von Seiten der Kuratoren aufgelöst würden, sieht sich getäuscht. Auch die kleinen Texte, die in einem sehr unpraktischen Kurzführer in Zeitungsformat abgedruckt sind, huldigen mehrheitlich eher der Atmosphäre als der Erklärung. - Aber vielleicht hat man als Betrachter auch die falsche Erwartung, wenn man ab und zu verstehen möchte, worauf diese oder jene Arbeit ungefähr abzielt. «Ich will nicht, dass der Betrachter meine Werke versteht», wird etwa der Belgier Jan de Cock in «El País» zitiert: «Ich verlange einfach nur, dass er sie sieht und spürt.» Mit solchen Statements wird der Ball ganz zum Publikum hin verschoben - denn wer nichts spürt, ist schliesslich selber schuld.

Natürlich gibt es auf dieser Manifesta auch ein paar gute Arbeiten zu sehen. So zeigt etwa der Portugiese Carlos Bunga eine nach mühseligem Aufbau mit wenigen Schnitten zum Einsturz gebrachte Kartonarchitektur. Micol Assaël aus Italien setzt in einem kleinen Räumchen der Casa Ciriza ausgediente Motoren unter Strom und erzeugt so eine kondenswasserfeuchte und im wahrsten Sinne des Wortes aufgeladene Atmosphäre. David Leckey aus London sorgt mit seinem schnell geschnittenen Raver-Video «Fiorucci Made Me Hardcore» für einigen Drive, und die Italienerin Paola Pivi provoziert mit ihrer interaktiven Nadelskulptur immerhin, dass sich die Nackenhaare ein wenig kräuseln. Die konzeptuellen Filmkapriolen des 1975 spurlos verschwundenen Holländers Bas Jan Ader überzeugen durch ihren bizarren Humor, und die Videoparabel «Killed by Lighting» des Russen Jewgeni Yufit überrascht als mutige Erzählung. Ja sogar den mit Porträts berühmter Filmschauspieler behängten Fahrrädern von Patrick Tuttofuoco aus Mailand kann man einen gewissen sportlichen Reiz abgewinnen - so man sich nicht scheut, in der Stadt ein wenig aufzufallen. Insgesamt aber ist die Manifesta von San Sebastian doch eher enttäuschend. Wenn man hier eine Tendenz ausmachen müsste, liesse sich einzig festhalten, dass das Prätentiöse ganz offensichtlich an die Stelle des Banalen oder Alltäglichen getreten ist, das die neunziger Jahre vorrangig beschäftigt hat. Hoffen wir also, dass diese Manifesta die Kunst unserer Zeit nicht wirklich repräsentiert. Denn wenn die «Percebe» fade schmecken, obwohl sie bei hohem Wellengang gepflückt worden sind, kann das nur an der Qualität des Wassers liegen - oder aber an unserem Gaumen.

Samuel Herzog

Manifesta 5 - Europäische Biennale für zeitgenössische Kunst, San Sebastian. Bis 30. September. Katalog in Vorbereitung. Informationen unter http://www.manifesta.es.

 
 
 

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