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13.11.2006 - Kultur&Medien / Ausstellung
Was von den ermordeten Eltern blieb: eine Gabel
VON ANNE-CATHERINE SIMON
Nestroyhof. Erschütternde Ausstellung "für das Kind".

V
erzweifelte Eltern bitten wohlwol lende Menschen, sich um ihren Sohn (14) zu kümmern, gut erzo gen, sportlich, intelligent." - "Zwei Mädchen, 8 und 9 Jahre, schön, blond, gesund, gut erzogen, Vater ein bekannter Wiener Anwalt, in großer Bedrängnis, bitten gütige Menschen, sie bei sich aufzunehmen." - "Bitten gütige Familie, braven Wiener Buben, 16 Jahre alt, aufzunehmen. Muss Wien sehr dringend verlassen, Eltern vermisst."

Man weiß nicht, was einen mehr erschüttert: die Annoncen aus dem in London publizierten Jewish Chronicle 1938 bis 1939, von denen man einige im Wiener Nestroyhof lesen kann - von Wiener Eltern, die versuchten, ihre Kinder in Sicherheit zu bringen und wussten, dass sie sie wohl nie mehr wiedersehen würden; oder die 23 Fotomontagen, die dort an der Wand hängen.

Jedes zeigt einen geöffneten Koffer, mit kärglichem Inhalt: ein Buch - "Tanzlust der Jugend", "Heidi", "Frag mich was" - oder eine Schürze, zwei Schuhlöffel oder Schlittschuhe ("zuletzt von meiner Mutter poliert"), ein Foto von den Eltern oder ein Puppenkleidchen. Jedes dieser Köfferchen gehört einem jüdischen Kind, das dank der "Operation Kindertransport" 1939 aus Deutschland oder Österreich nach England gebracht wurde.

Den meisten dieser Kinder blieb von den Eltern nur ein Pullover, ein Familienbild, die Schrift der Mutter im Stammbuch. Rund zehntausend Leben hat der "Kindertransport" innerhalb von neun Monaten gerettet, mit hundert Zugreisen. Die von den britischen Künstlerinnen Rosie Potter und Patricia Ayre initiierte beklemmende Installation "für das Kind" in den unterirdischen Gewölben des Wiener Nestroyhofs erinnert an die Opfer und an jene, die ihnen damals geholfen haben.

In einem der Koffer liegt nur eine kleine Gabel, sie gehört Bertha Leverton, einem ehemaligen "Kind". Leverton ist zur Ausstellungseröffnung gekommen, sie erzählt die Geschichte einer aus Wien stammenden israelischen Parlamentarierin, die ebenfalls 1939 mit ihrer kleinen Schwester für den ,Kindertransport' angemeldet wurde. "Kurz vor der Reise jammerte die kleine Schwester über Bauchweh, sodass die Mutter die ganze Nacht bei ihr blieb. Tags darauf gestand die Kleine der Schwester, sie habe das Bauchweh nur vorgetäuscht, um die Mutter noch bei sich zu haben. Die ältere Schwester erzählte das der Mutter, worauf die Mutter die kleine Schwester wieder abmeldete. Bis heute sage sich diese Frau: ,Hätte ich meiner Mutter damals nichts gesagt, hätte ich heute noch eine kleine Schwester.'"

Auch Inge Jacobs rettete der "Kindertransport", im "Presse"-Gespräch erzählte sie von einer ihrer letzten Erinnerungen an Wien: "Wir standen endlos lang im Belvedere wegen der Visa, und ein Mann vor mir fragte laut, warum das so lang dauert, wenn man uns doch draußen haben will; ich werde nie vergessen, was der Beamte darauf sagte: ,Es heißt ja nicht Juda verreise, sondern Juda verrecke'."

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