08.06.2001 19:28:00 MEZ
Gefangen in der Plateauphase
Uferlos ist alles mit Kunst verpickt: Kurator Szeemann verordnet eine Jahresdosis auf einmal

Die großen Alten sollten wohl wieder einmal alles zusammenhalten, meint Markus Mittringer über Harald Szeemanns Schau "Plateau der Menschheit" auf der Biennale von Venedig. Der bekannte Kurator verordnet dabei eine Jahresdosis Kunst auf einmal.


Venedig - Es ist überhaupt nicht gesagt, dass jeder Plateauphase ein Orgasmus folgt. Oft versiegt wieder alles, oder fällt einfach in sich zusammen. So wie manche Erzählungen sich eben auch verlieren, ausfransen, höhepunktslos enden. Vielleicht auch die zeitlose, große Erzählung von der menschlichen Existenz. Zumindest jene, die Harald Szeemann der 49. Biennale von Venedig auf das erweiterte Arsenale geschrieben hat.

Uferlos ist alles mit Kunst verpickt. Redselig drängt sich eine gute Hundertschaft von Künstlern auf dem "Plateau der Menschheit". Und weil Szeemann die aktuelle Plateauphase nicht als Thema verstanden wissen will, sondern als "Dimension", verleiht eben jeder sich selbst Ausdruck, was die Dimension schon recht babylonisch erscheinen lässt. Eine echte Verwirrung greift da um sich, wenn Künstler aus aller Herren Länder mit wirklich allen technischen Mitteln simultan zur Sache gehen.

Mit von der Partie auf der Hochebene sind auch einige Altvordere. Allen voran Joseph Beuys, der aus dem Hochland ruft: "Ich will meine Berge sehen." Cy Twombly sieht die Welt mit zunehmendem Alter immer bunter, und Chris Burden belebt den Rummel mit seiner fliegenden Dampfmaschine. Die großen Alten sollten wohl wieder einmal alles zusammenhalten. Und so ist auch Richard Serra mit dabei, dem Auflauf Gewicht zu verleihen, Ilya Kabakov sollte den Nachgeborenen zeigen, wie man das Politische inszeniert, und Harald Szeemann schließlich, wie man eine Ausstellung macht.

Die Frage nach dem Sinn beantwortet er selbst: "Do such large exhibitions still make sense? It depends solely on who organises them!" Selbstbewusst war er ja schon immer. Man muss sich das Ergebnis dieser ungebrochenen Haltung zu sich selbst jetzt so vorstellen: Das Atelier von Lieshout hat einen schwimmenden Klinikcontainer entworfen, um Frauen in internationalen Gewässern eine straffreie Abtreibung zu sichern; Xiao Yo bestelt sich aus organischem Material gruselige Fabelwesen, um auf die Bedrohung des Klonens hinzuweisen, und Ron Muecks verschreckt hockender Knabe fasst 5 mal 5 mal 2,5 m Raum.

Francys Alys führt Pfauen an der Leine durch Venedig, Atom Egoyan und Juliao Sarmento greifen das beliebte Thema Voyeurismus auf, Not Vital lässt eine Karawane durchs Hafenbecken ziehen - bloß die Köpfe der Kamele bleiben trocken. Und es gibt nichts, das sich nicht auf Video bannen oder auf DVD brennen ließe, das nicht auch im Plateau der Menschheit vorkommt: etwa Anri Salas Einschlafender in der Kirche.

Baguettes am Kopf

Aus Japan kommt ein lustiger Künstler namens Tatsumi Orimoto. Der stellt seiner Mutter gerne schwere Sachen auf den Kopf, sperrt sie in Wellpappe, hängt ihr Autoreifen um den Hals oder zieht ihr riesige Pappmachéschuhe an. Daraus werden dann lustige Fotos. Sein Alter Ego ist der Bread-Man.

Als solcher bindet er sich möglichst viele französische Baguettes um den Kopf und spricht mit seiner Mutter. Dazwischen hängt dann irgendwo ein gutes Bild von Helmut Federle, und schon steigt man wieder auf eine der zahlreichen vergoldeten Schildkröten der Cracking Art Group.

Nick Waplington fertigt Screenshots von Websites, die es nicht gibt, Websites, die das Paradies versprechen: für Päderasten, Freunde des gehobenen Gruppensex, für Betroffene eines multiplen Unglücks, Sozialgestörte.

Barry McGee hat einen echten Streetmarket aufgebaut: mit Buden und Werbung und einem echten Flipper. Unweit davon wird Samuel Becketts gedacht. Natürlich gibt es auch Labestationen. Die Gruppe Com & Com fertigt Trailer zu Filmen an, die es dann doch nicht gibt. Die Trailer sind technisch am Plateau der Zeit, ansonsten recht langweilig. Tanja Ostojic gedenkt feinsinnig eines Helden der Moderne: Sie hat sich ihr Schamhaar derart zurechtgestutzt, dass ein schwarzes Quadrat auf weißem Grund entsteht. Auch sehr lustig.

Harald Szeemann verabreicht eine Jahresdosis Kunst auf einmal. Und natürlich ist das schlecht. Weil erstens jede Konzentration flöten geht, zweitens Kraut und Rüben sich immer schon nicht vertragen haben. Man wird einfach erlebnisunwillig. Aber immerhin: So viele Künstler wie nie zuvor können den begehrten Eintrag Biennale erstmals oder erneut in ihre Lebensläufe machen.

Szeemann dürfte wirklich allen seinen Freunden gedient haben. Viele neue werden dazugekommen sein. Weltweit. Und darum geht es doch vorrangig: Das alle sich lieb haben. Und wissen, wem sie das verdanken. Einem, der einst ein begnadeter Ausstellungsgestalter war. Heute ist er bloß einer der Großen im Schaustellergeschäft. Der versteht die "Jungen" zwar nicht mehr, weiß aber, dass es immer gut ist, seine Hand draufzuhalten.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 9./10. 6. 2001)




Quelle: © derStandard.at