Eine Skulptur schafft Speicherplatz
Tony Cragg. Der britische Bildhauer erzählt im SN-Gespräch vom Abenteuer, Kunstwerke zu gießen.
GUDRUN WEINZIERL Tony Craggs gegenwärtige Einzelausstellungen im Louvre, im Duisburger Museum Küppersmühle und in der Salzburg Galerie Thaddaeus Ropac zeigen, dass es in der Kunst des Briten oft um den Kopf geht. Die SN baten den Schöpfer der „Caldera“ (auf dem Salzburger Makartplatz) um ein Gespräch.
Köpfe und Gesichter durchziehen seit einigen Jahren Ihr Werk wie ein Leitmotiv. Ihre große Ausstellung in Duisburg trägt den Titel „Dinge im Kopf, Things on the Mind“.
Tony Cragg: Alle Bildhauerei bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte nur mit der Figur zu tun, und selbst heute ist es sehr schwierig, Bildhauerei zu machen, die nicht auf den menschlichen Körper Bezug nimmt. Mensch und Figur sind nach wie vor das interessanteste für uns, nicht als Figur mit Haut, Haaren, Muskeln in ihrer Gestalt, sondern die Figur in ihrem geistigen Stoffwechsel, als Form von Energien.
Wer in ein Gesicht blickt, möchte auch wissen was sich dahinter verbirgt. Als Bildhauer interessiert mich, was hinter der Haut steckt, das Interne, die zellulare Form und die Geometrie, die kleinen Hüllen und die verlängerten Röhren. Stück für Stück diese Grundformen aufzuarbeiten bis man zurück an die Oberfläche kommt, das Gesicht neu erkennt, ist ein Abenteuer. Denn man weiß nicht, was nach dem Zeichnen, Modellieren, Schneiden, Gießen herauskommt. Wenn man Glück hat, passiert etwas, das nicht auf einer vorausgedachten Idee basiert, sondern zur Poesie wird.
Bei Ropac in Salzburg ist eine neue Skulptur aus geschichteten Holzplatten mit dem Namen „Chip“ zu sehen. Sie ist labyrinthhaft verschachtelt.
Tony Cragg: Jeder kennt das englische Essen Fish and Chips und den Chip aus der Computerwelt. Ein Chip ist etwas vom Großen abgespaltenes. In der Bildhauerei haut man etwas ab, „chipping away a sculpture“ ist das Thema der Aktivität, das Herausformen und Sichtbarmachen von Verborgenem, das im Kopf seinen Anfang nimmt.
Das Labyrinthhafte dieser Skulptur öffnet höhlenartige Räume. Mit ihrer riesigen Oberfläche ist – wie beim Computerchip oder den Windungen des Gehirns – Speicherplatz geschaffen. In unserer Wahrnehmung sehen wir weder sehr kleine noch sehr große Dinge. Wir sehen in der menschlichen Bandbreite, reden aber ständig von Dingen, die wir nicht sehen können: Wellen, Viren, Gravität, Moleküle, Engel. Solche Begriffe beschäftigen unsere Köpfe und – da ich ein visuelles Äquivalent für sie finden möchte – sind ein Thema meiner Arbeit. Man kann vieles nicht endgültig beschreiben, aber ich will einen Anfang damit machen. „Chip“ zeigt Schwäche, es ist ein Splitter, ein „Schnitz“ von etwas Großem.
Wahrnehmen von Kunst funktioniert im öffentlichen Raum anders als im privaten oder geschlossenen Bereich.
Tony Cragg: Kunst, die im öffentlichen Raum neu hinzukommt, provoziert immer. Menschen gewöhnen sich an das Alltägliche der urbanen Situationen, an Verkehr, Reklame, Ampeln, Baustellen – ob schön oder hässlich ist egal, weil dies zum Status quo gehört. Neue Gebäude bringen kurze Aufregung, aber sie entsprechen grundsätzlich der urbanen Situation.
Kommt ein unnützer Gegenstand in das Bild der Stadt, stellt dieser grundpsychologisch eine Gefahr dar, denn Kunst ist ein Alien, ein Eindringling aus dem Kopf von Menschen, die sonst nicht für Stadtlandschaft verantwortlich sind.
Sonst werden im öffentlichen Raum immer Ergebnisse sichtbar, die als kleinster gemeinsamer Nenner eines Potpourris von den Stadtplanern, der Ökonomie, der Politik usw. zustande gekommen sind. Ein Kunstwerk ist das Produkt eines Einzelnen, der einen individuellen Geist, eine individuelle Vision darstellt, und das ist provokant. Kunst muss das Publikum und dessen Reaktion nicht einbeziehen. Die Verantwortung des Künstlers ist, seine Vision so ehrlich und direkt wie möglich zu kreieren. Und das macht die Kunst in der Öffentlichkeit für mich so spannend.
In Salzburg wurde vor Kurzem die Frage nach dem Verbleib von Kunst aus der nationalsozialistischen Zeit im öffentlichen Raum gestellt.
Tony Cragg: Im öffentlichen Raum hat man es meistens mit Menschen zu tun, die sich für Kunst nicht interessieren. Ein Kunstwerk ist aber nie nur formal – wegen seines schönen Anblicks – zu betrachten, sondern auch inhaltlich. In der Historie, seit der Renaissance, ist die Bildhauerei oft als Machtsymbol eingesetzt worden. Man sieht aber auch, dass Skulpturen von Machthabern von den Sockeln gerissen werden. Wenn sich Ideologien ändern, sorgt die Gesellschaft meist dafür, dass diese Sachen wegkommen und die Werke sich ihrem historischen Schicksal ergeben müssen. Es sei denn, die Gesellschaft identifiziert sich mit diesen Werten oder toleriert sie. Ausstellung: Tony Cragg „Neue Skulpturen“, Galerie Thaddaeus Ropac, Salzburg, bis 18. Juni.