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05.08.2005 - Kultur&Medien / Ausstellung
Deutschlands erste "Wilde"
VON THOMAS VIEREGGE
Ausstellung. Mit einer großen Jubiläumsschau feiert die Neue Nationalgalerie in Berlin "100 Jahre Brücke".

Z
wölf Jahre liegen zwischen den Por träts zu Beginn und am Ende der Ausstellung in der Neuen National galerie Berlin, und doch liegen Welten dazwischen - und ein Ereignis, das den Weltenlauf erschütterte: der Erste Weltkrieg. Grimmig, selbstbewusst und entschlossen, die Welt aus den Angeln zu heben, so sehen sich die Protagonisten der Künstlergruppe "Die Brücke" auf den Holzschnitten und Lithografien in den Gründungsjahren 1905/1906. Desillusioniert, verbittert und gezeichnet von den zurückliegenden Wirrnissen haben sie sich dann nach dem Ende des Kriegs aufs Bild gebannt. Noch einmal hat Ernst Ludwig Kirchner sich und seine Weggefährten porträtiert, 1925 in seinem "Freundschaftsbild", aus dem schon die Distanz spricht, die zwischen dem Quartett steht. Leblos, abgewandt und mit kühlem Blick, haben einander die Männer nichts mehr zu sagen.

Als sich die vier Architekturstudenten Ernst Ludwig Kirchner, Fritz Bleyl, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff vor 100 Jahren in Dresden zusammenfanden, da waren sie darauf aus, gesellschaftliche wie künstlerische Tabus zu brechen, gegen die Salonkunst und die spießigen Konventionen des Wilhelmismus zu revoltieren. Es war die Sturm-und-Drang-Zeit, die sie hinaus (und somit auch wieder zurück) in die Natur zog. Um die Einheit von Kunst und Natur ging es. "Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht das wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt", formulierte als Manifest der Wildeste unter ihnen, Ernst Ludwig Kirchner. Und in einem Brief an Emil Nolde, der sich der Vereinigung eine Weile anschloss, gab Schmidt-Rottluff die Stoßrichtung vor, "alle revolutionären und gärenden Elemente an sich zu ziehen".

Es war die Geburtsstunde des deutschen Expressionismus, des laut Ausstellungskatalog "bedeutendsten Beitrags Deutschlands zur Moderne", der sich aus unterschiedlichen Einflüssen speist: dem Jugendstil, dem Japonismus und der "primitiven" Kunst, inspiriert vor allem von den Leitbildern van Gogh, Munch, Matisse und Gauguin. Die Schau zum 100-Jahr-Jubiläum im Mies-van-der-Rohe-Bau der Neuen Nationalgalerie in Berlin zeichnet diese Entwicklungslinien trefflich nach - und sie zeigt auch exemplarisch auf, wie sich die Wege der Künstlergruppe wieder trennten.

Zu Beginn konnte es ihnen nicht schnell genug gehen. Knapp warfen sie ihre Skizzen hin, spontan und leidenschaftlich nahmen sich die so genannten "Viertelstunden-Akte" aus. Modell standen ihnen ihre Freundinnen, zuerst in den Ateliers, später im Freien, bei ausgedehnten Aufenthalten an Nord- und Ostsee. Lodernde, schreiende Farben und eckige, kantige Formen prägten bald den Stil. Die "Frauen im Bade" stehen für diese Phase. Die einen betrieben Studien im Völkerkundemuseum, fremde Kulturen zogen sie in ihren Bann. Bei seiner Suche nach dem Echten und Ursprünglichen verschlug es Emil Nolde bis in die Südsee, nach Neuguinea. Enttäuscht notierte er: "Alles wird entdeckt und europäisiert."

Die anderen stürzen sich mit Feuereifer ins Berliner Nachtleben. "Das unerbittliche Berlin zwang jeden von uns, sich auf eigensten Wegen durchzuschlagen", schrieb Max Pechstein 1913. Die Tänzerinnen und Kokotten, die Varietés und die Bordelle, die Bars und das Tingel-Tangel-Gewerbe, das Verruchte schlechthin, ziehen Kirchner magnetisch an - aber auch Literaten wie Alfred Döblin, den Autor von "Berlin, Alexanderplatz". Mit flüchtigem Strich fängt er die fiebrige Atmosphäre, den pulsierenden Rhythmus des Boulevard am Vorabend des Ersten Weltkriegs ein. Seine von giftigem Grün und grellem Pink grundierten Straßenszenen in "Die Straße" und "Potsdamer Platz", in der sich Anonymität und Vergnügungssucht der Großstadt spiegeln, sind Höhepunkt und Finale der Ausstellung.

Schemenhafte Gestalten, Flaneure mit Hut und Zigarette, drücken sich verschämt an die Häuserwand, verstohlen werfen sie den Kokotten, drapiert mit extravagantem Hut- und Federschmuck, Blicke zu. Den Nationalsozialisten galten Kirchners Bilder als "entartete Kunst", unter Helmut Schmidt hingen sie im Kanzleramt. Teils als Leihgaben aus New York und Köln sind sie für die Berliner Jubiläumsschau wieder an den Ort ihres Entstehens zurückgekehrt - unweit des Potsdamer Platzes.

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