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Die Kunst sichtbar machen


FRANKFURT, 7. Juni. Von diesem Samstag an ist die Documenta 11 in Kassel für das Publikum geöffnet. Hartnäckig hält sich ihr Ruf als die wichtigste Kunstausstellung der Welt. Als "Plattform Nummer fünf" bezeichnet Okwui Enwezor, ihr künstlerischer Leiter, die Schau. Damit weist er darauf hin, daß hier eine Art "geistiger Documenta", wie er sie zuvor in vier Stationen als weltweite Kampagne inszeniert hatte, zu ihrem Abschluß kommt. Wer befürchtete, dem damit verbundenen Raunen der vergangenen Monate müsse nun die reine Illustration solcher Vorläufer folgen, sieht sich in Kassel nun eines Besseren belehrt: Die Kunst wird sichtbar gemacht.

Die Documenta 11 ist sinnlicher und jedenfalls publikumsfreundlicher als ihre Vorgängerin 1997. Daß Kunst nicht schiere Abbildung von unüberschaubarer Vernetzung ist, zeigt sie in allen Varianten der klassischen künstlerischen Ausdrucksformen. Es findet sich wenig traditionelle Malerei. Das Erzählerische geht auf andere Medien über: die Installation, das filmähnliche Video und die stark vertretene Fotografie werden dafür wieder in Dienst genommen.

Den im Wortsinn geforderten Anspruch des "Dokumentierens" erfüllt Enwezor, ohne dabei Tabus zu brechen oder zu schockieren. Die Documenta 11 ist ein lesbarer Kosmos. Sie löst den erklärten Anspruch, nicht eine Prognose für die Kunst zu liefern, sondern eine Diagnose zu versuchen, tatsächlich ein. Damit hat diese Documenta viele Zentren, aber keinen einen Ort, von dem aus sie ihre Thesen diktiert. Ihr Universum behauptet seinen prinzipiellen kritischen Anspruch; aber der einzelne Künstler geht nicht unter in einem oktroyierten Programm. Erfahrungen und Gefühle, der Druck der Verhältnisse und die Auflehnung dagegen werden künstlerisch bearbeitet: so etwa im splendiden Environment "Ans Haus gebunden" der in London lebenden Libanesin Mona Hatoum oder im Verhörszenario "Die Bürde der Schuld" der Kubanerin Tania Bruguera, die an die Performance-Tradition anknüpft.

Das Herz der Documenta 11 schlägt im neu hinzugekommenen Gebäude der ehemaligen Binding-Brauerei. In seinen unüberschaubaren, verschachtelten Räumen entsteht ein Labyrinth der Kunst in den Zeiten des Postkolonialismus, das immer neue Anschlußstellen produziert und sowohl überraschende als auch vorhersehbare Verbindungen legt. Im ehrwürdigen Fridericianum hat man stets ein wenig das Gefühl, eingeengt zu sein, auch wenn Dieter Roths Raum hier noch einmal die schöne alte Geschichte vom genialen Chaos erzählt. Die Brauerei ist der Spielraum für die Synopse, die kein übergreifendes Urteil will, sondern die Anerkennung des Vielfältigen. Von Kassel aus wird die nächsten hundert Tage bis zum 15. September über das, was Kunst ist, zu reden und zu rechten sein. (Siehe Feuilleton.)

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.06.2002, Nr. 130 / Seite 1

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