Das erste Mal


Harald Szeemann, was sehen Sie?

HARALD SZEEMANN, 1933 in Bern geboren, ist einer der wichtigsten Ausstellungsmacher der Welt. Von 1961 bis 1969 leitete er die Kunsthalle Bern, wo er mit Ausstellungen zur Phantastischen Kunst oder zu Sciencefiction den Kunstbegriff erweiterte. An der documenta 5 von 1972 versammelte er lauter Einzelgänger und zeigte ihre «individuellen Mythologien». Seit 1981 ist er freier Mitarbeiter am Kunsthaus Zürich. 1999 leitete er die Biennale in Venedig, auch die nächste wird seine Handschrift tragen.




Harald Szeemann, lassen Sie uns über Ihre Anfänge reden.
Ich war ein wahnsinnig herziges Kind, ein wenig exhibitionistisch vielleicht. Ich schnitt immer Grimassen. Und damit meine Eltern das Weihnachtsmärchen auch richtig begreifen konnten, habe ich es ihnen erzählt. Mit dem Dreirad bin ich gerne durch den Dreck gefahren, um danach mit Genuss das Vorderrad mit der Zunge abzuschlecken, so bekamen die anderen Kinder auch etwas Schönes zu sehen. Manchmal, wenn ich schlief, fielen Lichtstrahlen über mich her. Das waren die Zeichen des Krieges, der Verdunkelung. Und ich hatte Angst.

Wie waren Sie als Schüler?
Es war mir immer eine grosse Freude, im protestantischen Bern die katholischen Feiertage zu beziehen. Da zeigte mir der Lehrer Wüthrich mit dem Lineal dann schon, wo der Bartli den Most holt. Ich suchte sozusagen Grenzerfahrungen. Ich trieb es auf die Spitze. Dann aber musste ich eine Klasse wiederholen, plötzlich war ich ein Jahr älter als die anderen, und das war so ein riesiger Generationswechsel, dass ich den Rest der Schulzeit ohne Kapriolen hinter mich brachte.

Das ging ohne Nebenwirkungen?
Meine Bravheit fand Ausgleich im Sport. Für 50 Rappen Startgeld machte ich Orientierungsläufe, spielte Fussball, Basketball, Handball. Von dieser Zeit zehre ich bestimmt noch heute. Wie sonst könnte ich als Veteran aller Ausstellungsmacher hier stehen?

Als Sie mit 28 die Leitung der Kunsthalle Bern übernahmen, waren Sie der jüngste Kurator der Welt. Wie kamen Sie zu diesem Amt?
Dank Glück, Begabung, Leidenschaft, wilden Zeiten in Paris und Menschen wie Franz Meyer, der vor mir die Kunsthalle geleitet hatte und der mich förderte. Nach der Matur wollte ich ja eigentlich Grafiker werden. Aber dazu musste man in die Gewerbeschule, und nachdem ich nun zwei Jahre lang Kellers «Grünen Heinrich» gelesen hatte und er auch dort wieder auf dem Programm stand, hatte ich einfach genug vom Schulbetrieb. Ich hörte zwei Stunden lang eine Volkswirtschaftsvorlesung und entschied mich danach für Kunstgeschichte. Ich liebte ja den Dadaisten Hugo Ball.

Mit «Hommage an Hugo Ball» traten Sie 1957 das erste Mal als Ausstellungsmacher auf.
«Alle lebendige Kunst wird eine Geheimsprache führen und nicht erbauen, sondern Paradoxien hinterlassen», sagte Ball und entwickelte nach Dadaismus und politischer Arbeit einen Hang zum Exorzismus. Ich versuchte alles, was es von Ball gibt, zusammenzuführen. Ausserdem haben wir seine Texte vorgetragen. Auch die Enkelin von Emmy Hennings machte mit. Da zeigte sich wohl schon mein Hang zum Gesamtkunstwerk. Übrigens: Meine erste Ausstellung war nicht Hugo Ball, sondern «Dichtende Maler, malende Dichter» in St. Gallen.
In Ihrer Studentenzeit waren Sie auch mal Mephisto in Goethes «Urfaust», Sie führten ein Einmanntheater auf.
Das Einmanntheater 1956 war meine Synthese. Ich war Musiker, Schauspieler, Texter, Bühnenbildner. Ich wollte entgrenzen und zusammenfügen. Ich begriff: Das Theater ist ein Medium mit eigenen Möglichkeiten und Gesetzen. Das gilt auch für eine Ausstellung. Eine Ausstellung machen heisst nicht einfach ein paar Bilder aufhängen. Eine Ausstellung muss sich selber erklären und sinnlich sein.

Ihr Ausstellungskonzept fassten Sie einmal unter dem Titel «Museum der Obsessionen» zusammen. Das Museum, sagten Sie da, sei der Ort, wo Fragiles gezeigt und in neue Zusammenhänge gestellt werden könne, es sei die Welt, wo Spekulationen um eine Visualisierung ringen. In der Obsession sahen Sie eine freudige Energiequelle, die sich um gesellschaftliche Akzeptanz und Verwertbarkeit nicht kümmert. Wo sind Ihre Obsessionen?
Ich mache Ausstellungen. Dazu brauche ich Entdeckerfreude, Zeit, Raum, Wissen, Geld, Managerfähigkeiten, Geduld, Ungeduld. Aus Überzeugung bin ich stets davon ausgegangen, dass eine Ausstellung anderen nur dann etwas zu sagen hat, wenn ich es wage, sie zu meinem eigenen, ganz persönlichen Ausdrucksmittel zu machen.

Seit 1969 arbeiten Sie als freier Ausstellungsmacher.
Ja. Wenn man in einer Institution arbeitet, braucht es halt sehr viel Geduld, bis man die anderen von einer Idee so weit überzeugt hat, dass sie das Gefühl haben, sie seien selber darauf gekommen. Seit 1969, also seit der Gründung meiner «Agentur für Geistige Gastarbeit», lebe ich jetzt auf einer fröhlichen Insel, alle Instanzen und Kommissionen sind in einer Person, nämlich meiner, vereinigt. Da habe ich die nötige Freiheit, meine Obsessionen mit der vita contemplativa in eine Balance zu bringen.


Das Gespräch führte Ursula von Arx

Foto: Mike Frei



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