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derStandard.at | Kultur | Bildende Kunst | Wiener Aktionismus 
20.02.2004
19:32 MEZ
Von Michael Freund
 
Der Hai ist ein Finger Gottes
Noch immer für eine Provokation gut: zu Besuch bei Otto Muehls Kommune in der Algarve

Immer wieder kommen Tiere ins Bild. In Gemeinsamkeiten wie im Kontrast, in dunklen Regungen des Stammhirns oder in erschreckender Deutlichkeit haben sie schon das Kind erschreckt und fasziniert: eine Messlatte, der es sich stellen wollte, noch unbewusst zunächst. "ich sah", schreibt Otto Muehl über seine früheste Kindheit in Gols, "wie der hahn auf die hühner sprang, sah den kaninchen beim rammeln zu, ... ich hörte, dass die hunde manchmal nicht mehr auseinanderkönnen. dies käme auch bei menschen vor."

Immer wieder Tiere. Fast wäre er Bauer geworden, doch auch zehn Jahre später, nachdem er bereits den Lehrberuf studiert hatte, ohne ihn auszuüben, ließ ihn die Faszination mit dem anderen Leben nicht los. In seine Aktionen "floss" Tierisches ein, das Blut wurde zum Material, das Fleisch zur erschreckenden Attraktion. Mit Eingeweiden eines Schweins dekorierte er einmal eine im Bett liegende nackte Frau - diese "Weihnachtsaktion" in Braunschweig beschleunigte das Ende der aktionistischen Bewegung. Nitsch rettete sich ins rituell Priesterliche, doch Otto Mühl (wie er sich damals noch schrieb) beharrte auf der animalischen Spannung, die umso unerträglicher ist, je mehr sie niedergehalten wird. "Die Unterdrückung, die Erziehung . . . zum Denken in Beamtenkategorien, zum angepassten Tier, das gehört zum Getriebe dieser Gesellschaft." Unangepasste Tiere würden sich nicht gängeln lassen, "eine Ratte macht im Versuch nicht zweimal denselben Fehler", Menschen hingegen würden es immer wieder mit dem Heiraten versuchen.

Tiere bevölkern auch Muehls Bilder aus dem Gefängnis 1991 bis 1997, als sexuelle Aggressoren, als Zeus / Stier, der es mit Europa treibt, als blutige Beute.

Tiere sind auch hier und heute im Bild. Muehl steht vor einem der vielen Haifischbilder, die er in letzter Zeit malt. "Der Hai ist ein urzeitliches Tier, ein Volltreffer der Evolution, ein großartiges Viech. Muss sich immer bewegen, braucht viel Sauerstoff und viel Fressen. Er ist ein Finger Gottes. Der hat ihn geschaffen, da muss er doch in Ordnung sein."

Wir sind in seinem Studio, in einem großen Haus im Grünen mit Blick auf den Atlantik in der portugiesischen Algarve. Vor sechs Jahren ist der Rest der einstigen Kommune - rund zwei Dutzend, die Hälfte ist heute um die 50, die anderen sind eine Generation jünger - hierher gezogen, auf der Suche nach einem nicht zu teuren Platz an der Sonne.

Denn Muehl ist krank, er hat Parkinson, alle paar Stunden bekommt der 78-jährige Medikamente verabreicht. Er geht gekrümmt. Aber er ist nicht gebrochen. Immer noch steht er im Mittelpunkt, führt das Wort, während die anderen lauschen. "Am 2. Juni 1962", sagt er, "da hab' ich - nicht ohne Vorbilder - ein Bild zerrissen, zerschnitten, den Rahmen zerbrochen, ein Bündel geschnürt." Mit einer leichten Verbeugung vor Action Painting und Happenings skizziert er so die Geburt des Aktionismus mit ihm als Geburtshelfer, umringt von Feinden: Die Beamten haben seine Werke vernichtet, den Keller entrümpeln lassen, "gegen die hab' ich ständig einen Krieg gehabt. Die haben mich schon immer für einen Verbrecher gehalten."

Bitterkeit und Amusement halten sich die Waage, wenn er Rückblick hält. Um 1970 war ein Tiefpunkt: seine Ehe und seine Kunst am Ende, er allein in der großen Wohnung in der Praterstraße. Das zu ändern - und nicht eine große Theorie - stand am Anfang der Muehl-Kommune. Nachdem die ersten paar eingezogen waren, verbreitete sich die Nachricht von der praktizierten freien Sexualität à la Wilhelm Reich schnell durch Wiens Subkultur und weit darüber hinaus.

Claudia aus dem schweizerischen Aarau etwa hatte nach künstlerischen und sozialen Alternativen zum Elternhaus gesucht, in München studiert, in Zürich unterrichtet, ein erstes Mal in Wien geschnuppert, nochmals daheim einen Versuch unternommen. "Doch beim Otto hab' ich gemerkt: Von da geht das Ganze aus. Ich hab' dann beschlossen, da bleib ich, das ist das Paradies, so eine friedliche Stimmung!" Heute ist Claudia in der Algarve an seiner Seite, eine von Muehls "Hauptfrauen" und offiziell mit ihm verheiratet.

Unter den vielen Vorwürfen, die gegen die Entwicklung der Kommune erhoben wurden, sticht die Eheschließung von Otto und Claudia, die besondere Stellung ihrer Kinder und die damit einhergehende Hierarchisierung hervor. Denn anfangs war das genaue Gegenteil Programm: Zur selben Zeit, als Claudia einzog, schuf Muehl per Dekret Zweierbeziehungen und Privateigentum als Relikte der verrotteten Kleinfamiliengesellschaft ab. Zum Zeichen ihrer neuen Zugehörigkeit zogen alle Kommunarden Latzhosen an, ließen sich Glatzen scheren und machten eine Aktions-Analyse (AA): mit viel Körperlichkeit, Nacktheit und Techniken, die Geburtserleben und Urängste hervorrufen sollten. Erster und zunächst einziger Analytiker war natürlich Muehl.

Ex-Kommunarden, Freunde und Weggefährten haben die mäandernde Entwicklung der AA-Kommune nachgezeichnet (siehe den Beitrag auf Seite 4): von der egalitären zur leistungsorientierten Gesellschaft, weg vom Privateigentum, hin und wieder weg; der kostspielige Kauf einer ganzen Bucht auf der kanarischen Insel Gomera, das halbe Dutzend Außenstellen in Europa, wo man lukrative Warentermin- und Versicherungsgeschäfte abwickelte und längst dezent gekleidet und frisiert war, und der zentrale Friedrichshof im Burgenland. Dort lebte man als der von Muehl erdachte neue Mensch, "als einziges tier zur freien sexualität fähig", wie er einmal schrieb. Alle Tiere sollten gleich sein, aber einige - Orwell lässt grüßen - waren gleicher. Den Muehls ging es nach Aussagen vieler Abgefallener um einiges besser als den anderen (wenn auch die Abschottung, wie Claudia heute sagt, wegen des großen Ansturms auf Otto notwendig gewesen sein mag).

Das Ende kam schnell und in zwei Phasen: eine Art Palastrevolution um 1989, als der innere Kreis die Muehls entmachtete und ein Exodus begann, und 1991 der Prozess gegen Otto wegen Pädophilie, vollzogen an einer 13-Jährigen, der ihm sieben Jahre Gefängnis einbrachte, seiner Frau ein Jahr wegen Beihilfe.

Böses Blut macht der Pädophilie-Vorwurf noch immer. Man spricht von einer größeren Zahl, von Spätfolgen, von damals Jugendlichen, die bis heute nicht über die Zeit reden können oder wollen. Der Ex-Kommunarde Hans Schroeder-Rozelle, selbstständiger Berater in der Nähe von Stuttgart, vertritt ihr Anliegen in der Öffentlichkeit. Seit fast einem Jahr versucht er, Einfluss auf die bevorstehende Muehl-Ausstellung im MAK zu nehmen; er wehrt sich gegen die Trennung zwischen dem Künstler und dem aktionistischen Pädophilen. MAK-Chef Peter Noever hält dem die Autonomie seines Instituts entgegen (siehe Kasten Seite 2). Claudia Muehl wiederum sieht ein Komplott gegen ihren Mann am Werk: Er sei nicht der Einzige gewesen, er sei erpresst worden, und die Mädchen hätten ja auch Lust auf den Otto gehabt. Das allerdings wird von mehreren Ex-Muehlis heftig bestritten.

Die Ausstellung erregt jedenfalls schon im Vorfeld einiges Aufsehen. Ein deutsches TV-Team ist gerade in Muehls Atelier zu Gast, was den überheizten Raum noch um einiges wärmer macht. Dem Hausherrn ist es recht, seine Entourage macht es ihm bequem: neben Claudia Danièle Roussel, die seine Kunst managt (was zum Erhalt des Domizils beiträgt), und Violaine Roussieu, die in seinen neuen "Electric Paintings" auf Video und Digitalfotografie mitspielt, neben viel fäkaler und blutiger Farbe und begleitet von Muehls selbstironischem Blues.

Kassette läuft, Muehl ist in seinem Element, das heißt, immer noch für eine Provokation gut: Das Ende des Friedrichshofes? "Ich bin eigentlich dankbar, dass sie mich abgeschafft haben, mir diesen Stein vom Hals genommen haben." Das Gefängnis? "Es war eine köstliche Zeit, ich habe es geradezu genossen. Mir haben die Leute auch sehr gut gefallen." Seine jetzigen Mitbewohner - letztes Aufgebot, harter Kern? "Weder noch, die sind durchaus nicht besser als die anderen, die weggegangen sind, sie sehen nur ein, dass sie's brauchen." Der Staat? "Ich bin froh, dass es ihn gibt, dass er die primitiven Massen unten hält, denn wenn die hochkommen, dann bringen sie uns alle um."

Muehl sitzt in seinem Rollstuhl, blickt hinaus auf den von atlantischem Nebel verhangenen Horizont. In seiner riesigen, zerfurchten Hand hält er einen Pinsel voll grüner Farbe. Man denkt an seine Wurzeln, seine frühen Einflüsse, sein Studium, an das, was seine Gefährtinnen und Gefährten von ihm erzählen, und man denkt: Es stimmt, er hat etwas von einem Bauern an sich. Und von einem Lehrer, der immer den anderen zeigen möchte, wo's langgeht. Vor allem aber von einem Showman. Sieht er das auch so? "Auf jeden Fall", sagt er. "In der Selbstdarstellung in der Kommune wurde es geradezu trainiert. Das muss ins Schizophrene gehen, bis es den Leuten kalt über den Rücken läuft."

Der Hitler, für den er fast gefallen wäre, "der war ja ein echter Gauner, ein minderwertiger Typ! Ein Showman!", sagt Muehl und lacht. "Vielleicht war er unschuldig. Er hat geglaubt, er macht alles richtig. So geht's ja im Leben meistens. Man glaubt, es ist alles richtig, und ist ein totaler Psychopath und weiß es nicht. Vielleicht stellt sich heraus, dass ich total wahnsinnig bin, und die Leute halten mich noch für normal." (DER STANDARD, Printausgabe, 21./22.2.2004)


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