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Artikel aus dem EXTRA Lexikon

Schritt für Schritt

Von Ralph Fischer

Aufzählung Moderne Künstler und Schriftsteller untersuchen die Besonderheiten des menschlichen Ganges.

Was ist der Name dieses Wesens? Es erscheint am Morgen auf vier, am Mittag auf zwei und am Abend auf drei Beinen. Dieses Rätsel stellt die vierbeinige Sphinx vor den Toren Thebens jedem Menschen, der ihren Weg kreuzt. Alle, die an der Frage scheitern, werden von der grausamen Sphinx verschlungen. Eines Tages tritt Ödipus mit hinkenden Schritten dem Mischwesen gegenüber. Er kennt die richtige Antwort: "Der Mensch ist gemeint, der in seiner Kindheit auf allen Vieren kriecht, als Erwachsener auf zwei Beinen geht und als Greis einen Stock zur Hilfe nimmt." Die Sphinx stürzt sich in einen Abgrund und die Stadt Theben ist fortan vom Terror des Untiers befreit.

Worin liegt die Schwierigkeit des Rätsels? Es verweist auf den aufrechten Gang, der den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet: Ánthropos , das altgriechische Wort für Mensch, bedeutet wörtlich Zweibeiner. Das Gehen auf zwei Beinen ist für die vierbeinige Sphinx ein besonders augenfälliges Merkmal, doch die Menschen sind sich ihrer spezifischen Eigenschaft nicht bewusst. Daher ist das Rätsel für sie unlösbar: Wer achtet schon auf seinen Gang?

Ödipus – zu Deutsch: Schwellfuß – hinkt. Seine Füße sind deformiert. In seiner Kindheit wurden ihm die Füße durchstochen und zusammengebunden. Durch seinen hinkenden Gang unterscheidet er sich von den anderen Menschen. Doch ausgerechnet dieser Defekt qualifiziert Ödipus zum Rätsellöser: Er, dem jeder Schritt Mühe bereitet und dessen Gang vom normativen Muster abweicht, erkennt in der wandelbaren Fortbewegungstechnik den Menschen.

Fortbewegungstechnik

Die Fußsohle löst sich vom Untergrund, das Bein hebt sich und schwingt nach vorne und vollzieht eine kurvenförmige Bewegung, bis der Fuß schließlich mit der Ferse auf den Boden aufgesetzt und über den Ballen abgerollt wird. Das andere Bein erhebt sich währenddessen bereits wieder und vollzieht die gleiche Bewegung. Während das eine Bein sich vorübergehend vom Boden löst, sichert das andere den Kontakt zum Untergrund, stabilisiert die Bewegung und drückt den Körper nach vorne. Diese alternierende Bewegung der Beine bildet die Grundstruktur jener elementaren Fortbewegungstechnik des Menschen, die täglich praktiziert, doch kaum beachtet wird.

Bei genauer Betrachtung entfaltete das Gehen eine Vielzahl kultureller Bedeutungsfelder: "Ein kleiner Schritt für mich, aber ein großer Sprung für die Menschheit." Mit diesen Worten kommentiert der US-Astronaut Neil Armstrong am 20. Juli 1969 seinen Spaziergang auf der Mondoberfläche, wohlwissend, dass sein Gang im Weltraum den technischen Fort-Schritt und die Expansion menschlicher Möglichkeiten symbolisiert. Gehen kann aber auch ein politischer Akt sein, eine religiös-spirituelle Übung, ein Instrument der Wahrnehmung, eine Form des Widerstandes gegen die zunehmende Motorisierung und Beschleunigung der Lebenswirklichkeit – und Gehen kann sogar Kunst sein.

Im Jahre 1967 setzt der britische Künstler Richard Long einen wegweisenden Schritt: Er verlässt das Atelier, betritt die Landschaft und erschließt ein Arbeitsfeld, das bis dahin ästhetisches Niemandsland gewesen ist – die Möglichkeit, mit Gehen Kunst zu machen. Beim Überqueren einer Wiese zeichnen seine Schritte eine Linie im Gras. Long erkennt den ästhetischen Gehalt, der in dieser einfachen Handlung enthalten ist: Er erklärt sein Gehen und die Spur, die zurückbleibt, zur Kunst.

Damit ist "a line made by walking", Longs erste Landschaftsskulptur, entstanden. Das Kunstwerk, dessen Materialität so flüchtig ist wie der Prozess des Gehens selbst, verschwindet, sobald die niedergedrückten Grashalme sich wieder aufrichten. Gehen zählt seitdem zu den Grundlagen von Richard Longs Schaffen. Der britische Künstler unternimmt lange Wanderungen in Gebirgen, Wüsten und Moorlandschaften und verwendet zur Fertigung seiner skulpturalen Arbeiten ausschließlich Material, das er in der Landschaft vorfindet: Holz, Schlamm, Steine und natürlich das eigene Gehen.

Kreise und Linien zirkulieren als Leitmotive durch das Werk Richard Longs. Als der Künstler im Jahr 2003 in Indien unterwegs war, zeichnete er mittels Gehen einen Kreis in einen Flecken brandgerodeter Erde. Die Kinder des nahen Dorfes, die diesen Vorgang zunächst scheu aus der Ferne beobachtet hatten, näherten sich nach der Fertigstellung des Kreises und begannen schließlich, darin herum zu laufen. Mit diesem überraschenden Ereignis veränderte sich auch der Charakter des Werkes: "A walking and running circle" war entstanden.

Richard Long ist nicht der einzige "walking artist" geblieben: Ab den 1960er-Jahren entdecken Bildende Künstler und Vertreter des experimentellen Theaters und der Performance Art den menschlichen Gang als Betätigungsfeld.

Die Kunst der sechziger Jahre ist geprägt von der Reduktion des künstlerischen Formenvokabulars und der Tendenz zum Performativen: Nicht die Schaffung zeitbeständiger Werke, sondern die Hervorbringung flüchtiger Ereignisse steht im Mittelpunkt des künstlerischen Interesses.

Gehen zählt zu den minimalistischen künstlerischen Mitteln, bietet aber zugleich vielfältige Möglichkeiten und enthält alle Grundkomponenten performativer Ästhetik: Es entfaltet sich räumlich, zeitlich, lautlich und körperlich und erzeugt nichts Beständiges, sondern lässt allenfalls Spuren in der Oberfläche des Bodens zurück.

Das Gehen als Mittel zur Strukturierung von Beziehungen in Raum und Zeit steht im Zentrum des Projektes "The lovers. Great wall walk" von Marina Abramovic und Ullay. Schauplatz der Performance-Arbeit: Die Chinesische Mauer. Die beiden Künstler beginnen zur gleichen Zeit eine Wanderung auf der Mauer, wobei Marina am südlichen Ende, am Chinesischen Meer, und Ullay am nördlichen Ende, der Wüste Gobi, startet. Das Künstlerpaar wandert so lange, bis es sich in der Mitte des gewaltigen Bauwerks begegnet.

Der "Great Wall Walk" dauerte neunzig Tage und jeder der beiden Künstler bewältigte eine Strecke von ca. zweitausend Kilometern. Die Mauer, ein Symbol der Trennung, wurde im Rahmen des künstlerisch-performativen Prozesses zur Brücke, zum Medium der Annäherung. Ursprünglich sollte am Ende der langen Wanderung die Hochzeit stehen, doch als die Künstler das Projekt im Jahre 1988 schließlich realisieren, haben sich die Verhältnisse geändert: Der lange Prozess des Entgegengehens mündet nicht in eine Eheschließung, sondern wird zur ritualisierten Trennung. Marina Abramovic und Ullay gehen zweitausend Kilometer lang aufeinander zu, um sich am Ende ihrer langen Wanderung für immer voneinander zu verabschieden.

Auch der irische Autor und Regisseur Samuel Beckett, dessen Arbeit die Kunstlandschaft nachhaltig beeinflusste, setzt sich in seinem spartenübergreifenden Werk mit dem menschlichen Gang auseinander. Missglückte Gehversuche, kuriose Gangarten und defizitäre Formen des Gehens sind ein häufig wiederkehrendes Motiv in seinem Werk. Bereits in seinem Roman "Watt" (1953) beschreibt Beckett einen Gang von spektakulärer Kuriosität: "Watts Gewohnheit, geradewegs, zum Beispiel, nach Osten zu gehen, bestand darin, dass er seinen Oberkörper so weit wie möglich nach Norden drehte und gleichzeitig sein rechtes Bein so weit wie möglich nach Süden schleuderte, dann seinen Oberkörper so weit wie möglich nach Süden drehte, und gleichzeitig sein linkes Bein so weit wie möglich nach Norden schleuderte . . ."

Watt dreht sich beim Gehen um die eigene Achse, wobei der physische Aufwand in keinem ausgewogenen Verhältnis zur zurückgelegten Wegstrecke steht. Watts Gangart führt die konventionelle Funktion des Gehens als eine Technik zur Fortbewegung ad absurdum. So wird das Gehen, jene meist unbeachtete Alltagspraktik, durch Verfremdung augenfällig.

Bruce Nauman, der US-amerikanische Konzept- und Medienkünstler, probiert im Jahre 1969 die kuriose Gangart des Fußgängers Watt am eigenen Leib: Er zeichnet seinen "Beckett Walk" mit einer um 90 Grad gekippten Videokamera auf, dadurch entsteht auf dem Videotape der Eindruck, als hätten die räumlichen Konstanten ihre konventionelle Ordnung verlassen. Der Performer scheint mit eigenartigen Zirkelschritten eine Wand entlang zu spazieren.

Hinkender Abgang

"Man entschuldige, wenn ich erwähne, was offensichtlich ist." Diese Aussage aus Samuel Becketts "Geistertrio" ist programmatisch für die Entwicklung der Künste in den 1960er-Jahren: Nicht das Außergewöhnliche, sondern das Offensichtliche und gerade deshalb oft Unbeachtete wird ins Blickfeld gerückt. Im antiken Mythos kostet die Nichtbeachtung des Offensichtlichen viele Menschenleben, denn alle, die am Rätsel der Sphinx scheitern, werden von dieser verschlungen. Allein der hinkende Ödipus konnte den Menschen am Gang erkennen. Moderne Ästhetik funktioniert oftmals analog zum Hinken des Ödipus: Die Wahrnehmung wird intensiviert, indem der Gang der Gewohnheit gestört und dadurch ein Erkennen ermöglicht wird. Eine Aussage des Autors und Regisseurs Heiner Müller bringt dieses ästhetische Prinzip auf eine lakonische Grundformel: "Der hinkende Vogel verfremdet den Flug."

Ralph Fischer ist Doktorand am Institut für Theater-, Film- und Medienwissen-schaft der Universität Wien. 2005/06 arbeitete er als Junior Fellow im IFK (Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften) Wien am Projekt "Walking Artists: der menschliche Gang in den performativen Künsten".

Samstag, 19. August 2006


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