Was ist der Name dieses Wesens? Es
erscheint am Morgen auf vier, am Mittag auf zwei und am Abend auf drei
Beinen. Dieses Rätsel stellt die vierbeinige Sphinx vor den Toren
Thebens jedem Menschen, der ihren Weg kreuzt. Alle, die an der Frage
scheitern, werden von der grausamen Sphinx verschlungen. Eines Tages
tritt Ödipus mit hinkenden Schritten dem Mischwesen gegenüber. Er kennt
die richtige Antwort: "Der Mensch ist gemeint, der in seiner
Kindheit auf allen Vieren kriecht, als Erwachsener auf zwei Beinen geht
und als Greis einen Stock zur Hilfe nimmt." Die Sphinx stürzt sich in einen Abgrund und die Stadt Theben ist fortan vom Terror des Untiers befreit.
Worin liegt die Schwierigkeit des Rätsels? Es verweist auf den
aufrechten Gang, der den Menschen von allen anderen Lebewesen
unterscheidet: Ánthropos , das altgriechische Wort für Mensch,
bedeutet wörtlich Zweibeiner. Das Gehen auf zwei Beinen ist für die
vierbeinige Sphinx ein besonders augenfälliges Merkmal, doch die
Menschen sind sich ihrer spezifischen Eigenschaft nicht bewusst. Daher
ist das Rätsel für sie unlösbar: Wer achtet schon auf seinen Gang?
Ödipus – zu Deutsch: Schwellfuß – hinkt. Seine Füße sind deformiert.
In seiner Kindheit wurden ihm die Füße durchstochen und
zusammengebunden. Durch seinen hinkenden Gang unterscheidet er sich von
den anderen Menschen. Doch ausgerechnet dieser Defekt qualifiziert
Ödipus zum Rätsellöser: Er, dem jeder Schritt Mühe bereitet und dessen
Gang vom normativen Muster abweicht, erkennt in der wandelbaren
Fortbewegungstechnik den Menschen.
Fortbewegungstechnik
Die Fußsohle löst sich vom Untergrund, das Bein hebt sich und
schwingt nach vorne und vollzieht eine kurvenförmige Bewegung, bis der
Fuß schließlich mit der Ferse auf den Boden aufgesetzt und über den
Ballen abgerollt wird. Das andere Bein erhebt sich währenddessen
bereits wieder und vollzieht die gleiche Bewegung. Während das eine
Bein sich vorübergehend vom Boden löst, sichert das andere den Kontakt
zum Untergrund, stabilisiert die Bewegung und drückt den Körper nach
vorne. Diese alternierende Bewegung der Beine bildet die Grundstruktur
jener elementaren Fortbewegungstechnik des Menschen, die täglich
praktiziert, doch kaum beachtet wird.
Bei genauer Betrachtung entfaltete das Gehen eine Vielzahl kultureller Bedeutungsfelder: "Ein kleiner Schritt für mich, aber ein großer Sprung für die Menschheit."
Mit diesen Worten kommentiert der US-Astronaut Neil Armstrong am 20.
Juli 1969 seinen Spaziergang auf der Mondoberfläche, wohlwissend, dass
sein Gang im Weltraum den technischen Fort-Schritt und die Expansion
menschlicher Möglichkeiten symbolisiert. Gehen kann aber auch ein
politischer Akt sein, eine religiös-spirituelle Übung, ein Instrument
der Wahrnehmung, eine Form des Widerstandes gegen die zunehmende
Motorisierung und Beschleunigung der Lebenswirklichkeit – und Gehen
kann sogar Kunst sein.
Im Jahre 1967 setzt der britische Künstler Richard Long einen
wegweisenden Schritt: Er verlässt das Atelier, betritt die Landschaft
und erschließt ein Arbeitsfeld, das bis dahin ästhetisches Niemandsland
gewesen ist – die Möglichkeit, mit Gehen Kunst zu machen. Beim
Überqueren einer Wiese zeichnen seine Schritte eine Linie im Gras. Long
erkennt den ästhetischen Gehalt, der in dieser einfachen Handlung
enthalten ist: Er erklärt sein Gehen und die Spur, die zurückbleibt,
zur Kunst.
Damit ist "a line made by walking", Longs erste Landschaftsskulptur,
entstanden. Das Kunstwerk, dessen Materialität so flüchtig ist wie der
Prozess des Gehens selbst, verschwindet, sobald die niedergedrückten
Grashalme sich wieder aufrichten. Gehen zählt seitdem zu den Grundlagen
von Richard Longs Schaffen. Der britische Künstler unternimmt lange
Wanderungen in Gebirgen, Wüsten und Moorlandschaften und verwendet zur
Fertigung seiner skulpturalen Arbeiten ausschließlich Material, das er
in der Landschaft vorfindet: Holz, Schlamm, Steine und natürlich das
eigene Gehen.
Kreise und Linien zirkulieren als Leitmotive durch das Werk Richard
Longs. Als der Künstler im Jahr 2003 in Indien unterwegs war, zeichnete
er mittels Gehen einen Kreis in einen Flecken brandgerodeter Erde. Die
Kinder des nahen Dorfes, die diesen Vorgang zunächst scheu aus der
Ferne beobachtet hatten, näherten sich nach der Fertigstellung des
Kreises und begannen schließlich, darin herum zu laufen. Mit diesem
überraschenden Ereignis veränderte sich auch der Charakter des Werkes:
"A walking and running circle" war entstanden.
Richard Long ist nicht der einzige "walking artist" geblieben: Ab
den 1960er-Jahren entdecken Bildende Künstler und Vertreter des
experimentellen Theaters und der Performance Art den menschlichen Gang
als Betätigungsfeld.
Die Kunst der sechziger Jahre ist geprägt von der Reduktion des
künstlerischen Formenvokabulars und der Tendenz zum Performativen:
Nicht die Schaffung zeitbeständiger Werke, sondern die Hervorbringung
flüchtiger Ereignisse steht im Mittelpunkt des künstlerischen
Interesses.
Gehen zählt zu den minimalistischen künstlerischen Mitteln, bietet
aber zugleich vielfältige Möglichkeiten und enthält alle
Grundkomponenten performativer Ästhetik: Es entfaltet sich räumlich,
zeitlich, lautlich und körperlich und erzeugt nichts Beständiges,
sondern lässt allenfalls Spuren in der Oberfläche des Bodens zurück.
Das Gehen als Mittel zur Strukturierung von Beziehungen in Raum und
Zeit steht im Zentrum des Projektes "The lovers. Great wall walk" von
Marina Abramovic und Ullay. Schauplatz der Performance-Arbeit: Die
Chinesische Mauer. Die beiden Künstler beginnen zur gleichen Zeit eine
Wanderung auf der Mauer, wobei Marina am südlichen Ende, am
Chinesischen Meer, und Ullay am nördlichen Ende, der Wüste Gobi,
startet. Das Künstlerpaar wandert so lange, bis es sich in der Mitte
des gewaltigen Bauwerks begegnet.
Der "Great Wall Walk" dauerte neunzig Tage und jeder der beiden
Künstler bewältigte eine Strecke von ca. zweitausend Kilometern. Die
Mauer, ein Symbol der Trennung, wurde im Rahmen des
künstlerisch-performativen Prozesses zur Brücke, zum Medium der
Annäherung. Ursprünglich sollte am Ende der langen Wanderung die
Hochzeit stehen, doch als die Künstler das Projekt im Jahre 1988
schließlich realisieren, haben sich die Verhältnisse geändert: Der
lange Prozess des Entgegengehens mündet nicht in eine Eheschließung,
sondern wird zur ritualisierten Trennung. Marina Abramovic und Ullay
gehen zweitausend Kilometer lang aufeinander zu, um sich am Ende ihrer
langen Wanderung für immer voneinander zu verabschieden.
Auch der irische Autor und Regisseur Samuel Beckett, dessen Arbeit
die Kunstlandschaft nachhaltig beeinflusste, setzt sich in seinem
spartenübergreifenden Werk mit dem menschlichen Gang auseinander.
Missglückte Gehversuche, kuriose Gangarten und defizitäre Formen des
Gehens sind ein häufig wiederkehrendes Motiv in seinem Werk. Bereits in
seinem Roman "Watt" (1953) beschreibt Beckett einen Gang von
spektakulärer Kuriosität: "Watts Gewohnheit, geradewegs, zum
Beispiel, nach Osten zu gehen, bestand darin, dass er seinen Oberkörper
so weit wie möglich nach Norden drehte und gleichzeitig sein rechtes
Bein so weit wie möglich nach Süden schleuderte, dann seinen Oberkörper
so weit wie möglich nach Süden drehte, und gleichzeitig sein linkes
Bein so weit wie möglich nach Norden schleuderte . . ."
Watt dreht sich beim Gehen um die eigene Achse, wobei der physische
Aufwand in keinem ausgewogenen Verhältnis zur zurückgelegten Wegstrecke
steht. Watts Gangart führt die konventionelle Funktion des Gehens als
eine Technik zur Fortbewegung ad absurdum. So wird das Gehen, jene
meist unbeachtete Alltagspraktik, durch Verfremdung augenfällig.
Bruce Nauman, der US-amerikanische Konzept- und Medienkünstler,
probiert im Jahre 1969 die kuriose Gangart des Fußgängers Watt am
eigenen Leib: Er zeichnet seinen "Beckett Walk" mit einer um 90 Grad
gekippten Videokamera auf, dadurch entsteht auf dem Videotape der
Eindruck, als hätten die räumlichen Konstanten ihre konventionelle
Ordnung verlassen. Der Performer scheint mit eigenartigen
Zirkelschritten eine Wand entlang zu spazieren.
Hinkender Abgang
"Man entschuldige, wenn ich erwähne, was offensichtlich ist." Diese
Aussage aus Samuel Becketts "Geistertrio" ist programmatisch für die
Entwicklung der Künste in den 1960er-Jahren: Nicht das
Außergewöhnliche, sondern das Offensichtliche und gerade deshalb oft
Unbeachtete wird ins Blickfeld gerückt. Im antiken Mythos kostet die
Nichtbeachtung des Offensichtlichen viele Menschenleben, denn alle, die
am Rätsel der Sphinx scheitern, werden von dieser verschlungen. Allein
der hinkende Ödipus konnte den Menschen am Gang erkennen. Moderne
Ästhetik funktioniert oftmals analog zum Hinken des Ödipus: Die
Wahrnehmung wird intensiviert, indem der Gang der Gewohnheit gestört
und dadurch ein Erkennen ermöglicht wird. Eine Aussage des Autors und
Regisseurs Heiner Müller bringt dieses ästhetische Prinzip auf eine
lakonische Grundformel: "Der hinkende Vogel verfremdet den Flug."
Ralph Fischer ist Doktorand am Institut für Theater-, Film- und
Medienwissen-schaft der Universität Wien. 2005/06 arbeitete er als
Junior Fellow im IFK (Internationales Forschungszentrum
Kulturwissenschaften) Wien am Projekt "Walking Artists: der menschliche
Gang in den performativen Künsten".
Samstag, 19. August 2006