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Kunst Haus Wien: Als Sartre seine Zigarette verlor

05.03.2010 | 18:40 | ALMUTH SPIEGLER (Die Presse)

Verfälschte Kriegsfotografie, Mädchen, die als Aktmodelle posieren, Adolf Hitlers Leiche: Eine Ausstellung über „Kontroversen“ in der Fotografiegeschichte.

Es war der Skandal des vergangenen Londoner Kunstjahres: Die „Tate Modern“ musste auf Anraten der Sittenpolizei Richard Prince' Foto des Fotos der nackten zehnjährigen Brooke Shields aus der Ausstellung „Pop Life“ entfernen. In der Hamburger Kunsthalle, in der die Schau noch bis Anfang Mai läuft, wurde dieses Symbolbild eines langjährigen Verfahrens zwischen dem ursprünglichen Fotografen und der inzwischen erwachsenen Schauspielerin gar nicht erst aufgehängt.

Im „Kunst Haus Wien“ dagegen fällt das befremdliche Lolita-Sujet (die Mutter verkaufte damals die Rechte) zwischen all den skandalösen Fällen der Fotografiegeschichte gar nicht weiter auf. Eher wird es in seiner Fragestellung – Pädophilie oder nicht – historisch verortet. Schon Amateurfotograf Lewis Carroll war in den Frühzeiten der Fotografie, 1858, in den Verdacht sexueller Verirrungen geraten, als er die achtjährige Dekanstochter Alice Liddell mit schulterfreiem Kleid und leicht geneigtem Kopf, direkt in die Kamera blickend, abbildete. Die Erben des „Alice im Wunderland“-Autors machten es der Nachwelt nicht leicht, Unklarheiten auszuräumen. Sie entfernten Seiten aus dem Tagebuch.

Was aber sagt man, wenn eine Mutter (Irina Ionesco) die eigene Tochter als kindliche Verführerin abbildet? Bild für Bild testet die Ausstellung das Moralempfinden des Einzelnen: War es gerechtfertigt, in diesem Moment den Auslöser zu betätigen? Verständlich, den Retuschepinsel zu schwingen? Das Bild überhaupt zu veröffentlichen? Immer wird hier ein schmaler Grat beschritten, dessen Schlagseite oft das Gericht entscheiden musste – durch die zweifelhafte, weil subjektive Entscheidung: Kunst ja oder nein.

 

Zwischen skurril und schockierend

Mutet es noch harmlos an, wenn gezeigt wird, wie Jean-Paul Sartre, 1946 bei einer Theaterprobe fotografiert, für ein Ausstellungsplakat 2005 plötzlich den Zigarettenstummel verliert (das französische Tabakwerbeverbot), führt es doch zu gröberen Konflikten beim Anblick einer abgerissenen menschlichen Hand, die nach 9/11 von einer New Yorker Zeitung veröffentlicht wurde – obwohl sich die US-Medien geeinigt hatten, keine Leichen zu zeigen. Diese allzu bunte Mischung aus skurrilen und schockierenden Bildern, Sterbende neben Erotischem neben Spiritistischem neben Politischem, ist schwer verdaulich. Auch wenn man dabei nie alleingelassen wird: Neben jedem der rund hundert vom Elysee-Museum Lausanne zusammengestellten Fotos ist ausführlich seine Geschichte abgedruckt.

Warum aber wird gerade „sensibleren“ Gemütern vom Ausstellungsbesuch abgeraten und ist er Kindern unter 14 überhaupt verboten? Pädophile sind wohl weder als sonderlich sensibel noch als minderjährig bekannt. Was auch für Neonazis gilt, die sich vielleicht vor das einzige angebliche Foto von Hitlers Leiche werfen wollen – dessen Entstehung völlig unklar ist. Es müsste vor der Verbrennung geschossen und noch im Bunker entwickelt worden sein, wo es russische Soldaten gefunden haben wollen. Vielleicht musste das Ende des Grauens aber auch einfach nur visualisiert werden. Trotz der Mischung kommt jedenfalls bald heraus, dass die Probleme der Gesellschaft mit massenmedial verwerteter Fotografie heute wie damals dieselben sind: Sex und Manipulation (technische, ideologische). War doch schon der Erfinder der modernen Fotografie, Hippolyte Bayard, 1840 der erste Fotofälscher: Er porträtierte sich selbst als Ertrunkenen.

Bis 20.Juni, täglich 10–19h, Untere Weißgerberstr. 13, Wien 3.


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