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In den Zeitraubhöhlen der Kunst


Über die schmalste Währung, die dem Menschen gegeben ist, sollte der Besucher reichlich verfügen: Zeit. An den Sälen und Durchgängen aller drei Gebäude der Documenta 11 lauern schwarze Zeitraubhöhlen in Form der Videokojen auf ihre Beute. Sie kommt reichlich. Bereits vor dem Vorbesichtigungsbeginn verharrten Besucher wie gebannt vor Filmen, die ausnahmslos das eine Ziel vertreten, gegen die rasende Schnittechnik der Clips die Versenkung und den Fluß einer scheinbar endlosen Zeit zu vergegenwärtigen.

So zeigt der Moldawier Pavel Braila in "Shoes for Europe" eine vierzigminütige Umsetzung der Eisenbahn an der Grenze von Moldawien und Rumänien. In jeder Sekunde werden die Betrachter von der Düsternis des Grenzortes und der Majestät der Technik des neunzehnten Jahrhunderts erfaßt. An der Grenze zwischen zwei Welten verweigert der Film die Ästhetik des Augenblicks, des Schnittes und des Schocks, und darin ist er Programm für die gesamte Documenta, die avantgardistisch ist, weil sie ruhiger wirkt als ihre Vorgänger.

So bestimmt das Bemühen, im Film eine fließende, durch Schnitte zerlegte Zeiterfahrung zu vertreten, auch die mythische Kraft, in der sich schwarze Menschengruppen im Videofilm der Iranerin Shirin Neshat auf den Hortus Conclusus einer Baummadonna zubewegen. Er berührt zwar die Grenze zum Pathos, bleibt in der Aktivierung eines rituellen Wallfahrtslaufes aber ein Ereignis von seltener Eindringlichkeit.

Von unvergleichlicher Bildpoetik ist vor allem der Videofilm "Of Poetry and Prophecies" des Inders Amar Kanwar. Rituale des sechzehnten Jahrhunderts und geometrische Exzesse moderner Militärformationen Indiens zeigen sich hier als Verschwisterung von Waffe und Körper. Als Zeugnis eines so schönen und stolzen wie verblendenden und destruktiven Kultes bilden sie die Elemente eines grandiosen Opus struktureller Gewalt. Und wenn ein Reiter einen überfüllten Zug galoppierend überholt, ereignet sich im Verlauf weniger Sekunden eine unerhört suggestive Zwiesprache von Technik und Freiheit.

Die Entschleunigung des Videos verdeutlicht beispielhaft, daß die Ausstellung die Botschaft vermittelt, die Expansion der Gegenwartskunst zurückzunehmen. Bis auf das hochgezüchtete Killerspiel des Chinesen Feng Mengbo und die grandiose Betrachtung der mexikanisch-amerikanischen Grenze durch die Belgierin Chantal Akerman, die in "From the other Side" jeweils aktuelle Grenzaufnahmen über das Internet in ihre Videoinstallation von suchenden Lichtkegeln einspeist, bleiben auch technische Exaltationen so gut wie ausgeblendet. Mit demselben Gestus vermeidet die Documenta alle plakativen Zeichen von Gewalt, Erotik und Politik. Sie geht das Wagnis ein, auf deklamatorische Provokationen zu verzichten.

Von Okwui Enwezor ist erwartet worden, die Probleme der Globalisierung aus einer Frontstellung zur westlichen Kultur darzustellen. Er hat sich mit seinem Team diesem Anspruch dadurch gestellt, daß er der längst globalisierten Kunstwelt die Unhintergehbarkeit innerästhetischer Regeln vorführt und ungebrochen alteuropäische Maßstäbe zurückspiegelt. Die Documenta widersetzt sich dem freundlich verblümten Kulturimperialismus des politisch Korrekten. Getreu dem Dictum von Sarat Maharaj, daß die Kunst die Kunsttheorie "zerschreddert", düpiert sie selbst einige der Katalogessays.

Ihre politische Aussage liegt in der formimmanenten Botschaft der Kunstvideos, daß keine Zerstörung so unwiederbringlich ist wie die der Zeit. Im Wiedergewinn bewußt gesehener Zeit bekämpft sie den Terror jener Atemlosigkeit, in dem sich die globale Geldkultur bis in die Blasen unserer Lungen einträgt.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 09.06.2002, Nr. 23 / Seite 23

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