Erster Tipp: Schenken Sie sich eine
Advent-Auszeit und schauen Sie sich als Kontrastprogramm die
neue Schiele-Ausstellung in der Wiener Albertina an. Zweiter
Tipp: Nehmen Sie sich sehr viel Zeit dafür! Diese 220 Werke
brauchen das.
Es gibt Momente im Leben von uns
Zeitungsmenschen, in denen uns die Dankbarkeit ob mancher
Privilegien unseres Berufsstandes in einer markanten
Unmittelbarkeit bewusst wird.
Gestern durfte ich wieder
einmal so einen Moment erleben: Die Möglichkeit nämlich, im
Rahmen einer exklusiven Pressekonferenz eine der feinsten
Ausstellungen von Werken des österreichischen Künstlers Egon
Schiele (1890-1918) in der Wiener Albertina genießen zu
können. Ohne kunsttouristischen Trubel, in voller
Konzentration auf Inhalte, auf Beweggründe und auf deren
geniale Umsetzung.
Die nackte Panik
Die
Besonderheit dieser Ausstellung, die Albertina-Direktor Klaus
Albrecht Schröder selbst zusammen gestellt hat: In der
chronologisch aufgebauten Präsentation ist viel
Außergewöhnliches zu sehen. Eingebettet in eine wahre
Bilderflut zwischen einem Selbstporträt des 16-jährigen
Schiele bis zum Aktselbstbildnis im Jahr 1918 kurz vor dem Tod
des Künstlers. 220 Werke - davon 130 aus der hauseigenen
Sammlung, ergänzt durch 90 Leihgaben aus Museen und privaten
Sammlungen.
Eine der erwähnten Besonderheiten: Die
erschütternde Serie von Aquarellen, die Egon Schiele im Jahr
1912 während seiner dreiwöchigen Untersuchungshaft im
Gefängnis schuf. Darunter das Bild "Den Künstler hemmen ist
ein Verbrechen, es heißt keimendes Leben ermorden." Ein
Gesicht starrt uns da entgegen. Ein Mann. Ausgezehrt, die
Gestalt notdürftig umwickelt mit einem Mantel, mit einer
grauen Decke. Im Blick nackte Panik ebenso wie Schmerz. Hier
offenbart sich nicht nur zeichnerische Meisterschaft, sondern
auch Schieles Fähigkeit, in einer grandiosen Intensität auf
der Klaviatur unserer Gefühle spielen zu können. Und so müssen
wir sie miterleben, die rasant zunehmende Zerrüttung des
damals zu Unrecht der Entführung und Schändung einer
Minderjährigen Verdächtigten.
Für
Kunst-Voyeure
Schiele überschritt Tabus. Ließ
Halbwüchsige nackt posieren. Zeichnete auch nackte Schwangere
- als sichtbaren Beweis gelebter Sexualität. Der pure Affront
für eine Gesellschaft, die den Geschlechtsakt nur zu gern
verdrängte. Und Schiele dokumentierte die offene Koketterie
erotisch erblühender Mädchen. Er demonstrierte
Exhibitionismus, er zeichnete Masturbation und
Onanie.
Alle diese Arbeiten sind hier zu sehen.
Kunst-Köder für Lust-Voyeure? Durchaus. Aber viel mehr noch:
immens kulinarisch aufbereitete Lust-Köder für
Kunst-Voyeure.
Information:
Geöffnet: bis
19. März 2006 tägl. 10-18 Uhr, Mi. 10-21 Uhr. 24. Dez.: 10-14
Uhr; 31. Dez.: 10-18 Uhr.
Katalog: "Egon
Schiele" (Prestel), 420 Seiten, 29
Euro.
Führungen: 01 / 53 4
83-540
Zufahrt: U-Bahn ab Westbahnhof bis
Station Karlsplatz
Internet: www.albertina.at
vom 07.12.2005 |