17. Juni 2003  
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Sie glauben nichts mehr: Schlingensiefs Pfahlsitzer
Biennale: Hobbykeller der Angst
Ein Atelierbesuch bei Candida Höfer


 




 
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Biennale
Zukunft mit Zwergen
Von Thomas Wagner, Venedig
 
13. Juni 2003 Eine Wand verschließt einen Raum. Wir glauben nichts mehr: Und doch bleiben die Giardini das Zentrum der Biennale. Haben Sie einen spanischen Paß? Nein? Wenigstens einen Personalausweis? Auch nicht? Nun gut, dann müssen auch Sie draußen bleiben. Denn Santiago Sierra, in Mexiko lebender Spanier, hat nicht nur kurz hinter dem Eingang zum Spanischen Pavillon in den Giardini di Castello aus grauen Betonsteinen eine grobe, unverputzte Wand hochziehen lassen, das über dem Tor prangende Wort "España" mit Folie verhüllt und den Zugang auf die Rückseite verlegt. Konsequent und in der Auslegung streng wie kein anderer wendet er noch einmal das Konzept einer nach Kriterien nationaler Zugehörigkeit geordneten Leistungsschau an: Wer nicht zur Nation gehört, der hat hier nichts zu suchen. Basta. In solchen Kategorien zu denken bedeutet: Wer eine bestimmte Gruppe einschließt, der schließt zugleich eine andere, oft zahlenmäßig größere, aus.

"Eine Wand verschließt einen Raum" nennt Santiago Sierra lakonisch seine kritische Intervention. Sie macht Schluß mit all dem naiven, wenn nicht gar verlogenen Gerede vom Zugang für alle. Statt dessen wird klar: Es gibt Grenzen, und zwar noch immer in der Hauptsache nationalstaatlich definierte. Auch in der Kunst. Wer keine Zugangsberechtigung vorzuweisen hat, muß draußen bleiben. Das entsprechende Verfahren regelt die Polizei. Die rauhe Wand hinter dem Eingang ist aber nicht nur eine soziale und politische Metapher. Sie riegelt auch jenes kleine, manchmal dumme Paradies ab, in dem die Kunst sich autonom wähnt. Was sich im Pavillon befindet? Fragen Sie Ihre spanischen Freunde. Oder Ihre Phantasie. Am ersten Mai, so wird erzählt, soll im Pavillon eine Aktion ohne Publikum stattgefunden haben, bei der eine alte Frau, die einen hohen, spitzen Hut trug, wie man ihn von Gemälden Goyas kennt, mit dem Gesicht zur Wand eine Stunde lang auf einem Hocker gesessen habe.

Kunst hat Öffnungszeiten

Nur einen Steinwurf entfernt kann man die weniger strenge, dafür aber offen theatralische Variante eines sozialpolitischen Diskurses über die öffentliche Funktion von Affekten erleben. "Kunst hat Öffnungszeiten, das mußte ich hier lernen", bekennt Christoph Schlingensief, der im Namen der "Church of Fear" unter dem Motto "Wir glauben nichts mehr" auf die Suche nach dem allseits verlorenen Halt macht. So sitzen seine "Säulenheiligen" gleich am Eingang zu den Giardini droben auf Baumstämmen und zeigen ihre Angst. Denn sie wollen die Angst, die ihr Kapital ist, keinem mehr geben, schon gar nicht einem Politiker, auf daß er etwas daraus mache.

Im bekannten Dreiländereck europäischer Großmächte mit angeschlossener kanadischer Holzhütte haben die Kanadier, wenn auch knapp, mal wieder die Nase vorn. Selbst wenn man zugeben muß, daß Julian Heynen den Deutschen Pavillon würdig, am Ende aber doch etwas zu gestylt und keimfrei gemacht hat. Martin Kippenberger und Candida Höfer, also lebenspralle Verschwendung und menschenleere Wissensräume, sarkastische Spontaneität und distanzierter Ästhetizismus, gute Laune bis zur Schmerzgrenze und unterkühlte Objektivität bis zum Einnicken, das geht einfach nicht zusammen. Zumal Kippenbergers an sich abgründige U-Bahn-Entlüftung, dieser kleine Schacht eines wahrhaft babylonischen Verkehrswegenetzes, nun in den Boden des Mittelschiffs eingelassen wurde, als handle es sich um eine minimalistische Skulptur. Das dunkle Geviert könnte zudem den Namen "Lauer Wind" tragen - so wenig Zugluft kommt einem bei Kippi, selbst postum, doch sehr komisch vor. Auf Candida Höfers Fotografien hat sich auch dieser Lufthauch noch gelegt. Soviel ästhetische Windstille aber wäre nicht nötig gewesen. Ganz anders bei Jana Sterbak, die auf sechs im Zickzack gereihten "Screens" in eine eisige Gegend entführt: "Von Hier nach Da". Wir sind irgendwo im Norden Kanadas, im Indianerland. Und selbst da hüpfen die Bilder nach Klaviermusik oder erzittern vom Bellen eines Hundes.

Laues Mischprodukt

Sonderbarerweise tun sich, wie schon bei den letzten Auftritten in Venedig, Frankreich und Britannien besonders schwer. Für die Grande Nation hat Jean-Marc Bustamente zum Mythos der Amazone ein laues Mischprodukt aus Installation, Fotografie und Malerei abgeliefert, für Britannien verwandelt der einstige Skandalkünstler Chris Ofili unter dem Titel "Afro Kaleidoskope" den Pavillon in eine allzu perlende Symphonie in Rot und Grün.

Alles in allem ist die fünfzigste eine eher schwache Biennale. Wenige wirklich überzeugende Werke in den Pavillons, ein entropisches Spannungsgefälle im Arsenal. Viel Weltanschauung, oft in flotte Sprüche gegossen: Like, Man, I'm tired (of Waiting)" schreibt Sam Durant noch verwirrend auf einen Leuchtkasten über dem Eingang zum italienischen Pavillon; drinnen verkündet Rirkrit Tiravanija, der hier als Künstler, im Arsenal als KünstlerKurator agiert, weiß auf schwarz auf Leinwand: "Less oil, more courage". Auf den Wänden des ästhetischen Kirchentags der "utopia station" sind die Sprüche dann Legion. Je lauter das Jahrhundert des Bildes verkündet wird, desto zahlreicher werden die Texte, die ebensowenig gelesen wie die Bilder betrachtet werden wollen.

Wenig hilfreiches Motto

Das Motto, das Francesco Bonami ersonnen hat, erweist sich ebenfalls als wenig hilfreich: "Träume und Konflikte - Die Diktatur des Betrachters", was soll das aussagen? Träume hat jeder, und Konflikte gibt es immer. Mehr als ein Passepartout zu Werbezwecken ist das nicht. Und von der schon vorab populistisch legitimierten "Diktatur des Betrachters" bleibt nach dem Gang durch das Arsenal nur noch die Ohnmacht des Betrachters. Das Ende der "Großen Schau", wie sie im zwanzigsten Jahrhundert ein Kurator verantwortet habe, sieht Bonami gar gekommen; was folge, sei freilich nicht etwa die "kleine" Variante, sondern abermals die "Grand Show", nun aber, da Unterschiede, Widersprüche und Vielfalt integriert werden müßten, fabriziert aus der Perspektive vieler. Also läßt er elf Kuratoren mehrere Ausstellungen machen.

Aber liegt nicht gerade darin das Problem? Daß keiner mehr den Kopf hinhalten möchte, nicht einmal mehr in der Kunst? Über so viel absichernde Mutlosigkeit muß sogar der harmlose Esel lachen, den Paola Pivi in ein Boot gestellt und als großes Transparent auf dem Weg zum Arsenal an eine Hauswand gehängt hat. So bleibt am Ende, trotz allen Geredes, doch nur die kleine Diktatur der vielen Kuratoren übrig. Dabei ist die Biennale - jenseits aller Träume und Schäume - in den Länderpavillons doch schon lange das Beispiel einer Schau, die von vielen Kommissaren gemacht wird, aus unterschiedlichen Welten, mit allen erdenklichen Eitelkeiten und aus den unterschiedlichsten Perspektiven. Die Bezüge immer weiter ausfransen lassen, kann das die Zukunft sein?

Es fehlt an Persönlichkeiten

Woran es der Biennale mangelt, sind kraftvolle Statements, die nicht nur eine Gesinnung ausstellen, sondern auch in der künstlerischen Form überzeugen. Kurz: Es fehlt an Persönlichkeiten, deren Werke nicht nur Bausteine im neuesten Spiel ambitionierter Kuratoren sind. Kasper König, diesmal "Kommissär Rex" des Österreichischen Pavillons, hat mit dem 1936 geborenen Bruno Gironcoli einen Künstler ausgewählt, der stets bewußt auf die Krücke des Realismus verzichtet hat. Die Welt, die seine dämonischen und hybriden Maschinenwesen entfalten, ist eben keine der Rechthaberei, sondern eine der Selbstfremdheit als Kunst. Dunkler Wienerwald, gepaart mit einem surrealen Technizismus, einer solchen Mischung ist mit Geschmack allein nicht beizukommen.

Das Gegenprogramm, welch Wunder, arrangiert Fred Wilson für die Vereinigten Staaten: Folgsam und politisch korrekt spürt er auf alten Gemälden und in Antiquitätenläden die dem weißen Mann dienenden Mohren von Venedig auf. Die Lektion ist bekannt. Die Kunst verzichtbar. Da arbeitet man schon lieber bei den Niederländern für Carlos Amorales: "Work for fun! Work for me!" Trotz Biennale ist Venedig voller Geschichten. So erschien der Legende nach im Jahr 639 dem Heiligen Magnus die Madonna in Gestalt einer wohlgeformten (formosa) Matrone und befahl ihm, dort eine Kirche zu bauen, wo er eine weiße Wolke über eine Insel schweben sehe. Die Gegend um die Kirche Santa Maria Formosa gehört jedenfalls zu dem am frühesten besiedelten Gebiet der Stadt. Ilya und Emilia Kabakov müssen die Wolke noch einmal gesehen haben, fragen sie doch in der gleich hinter der Kirche gelegenen Fondazione Querini Stampalia: Wo gehören wir hin? Auch sie wissen es nicht. Aber sie erzählen anschaulich und augenzwinkernd eine Geschichte von der Relativität all unseres Tuns, von den Riesen der Vergangenheit und den Zwergen der Zukunft. Wir stecken bis auf weiteres zwischendrin. Oder, wie ein kleines Schild hinter der neuen "Kirche der Angst" verkündet: "In Utopia There Is No Charity only Cherry-Tree". Haben Sie Ihren Paß inzwischen gefunden?


In den Giardini, dem Arsenal, im Museo Correr und an zahlreichen anderen Orten in der Stadt, bis 2. November. Der Kurzführer kostet 6, der Katalog 60 Euro.

Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.06.2003, Nr. 136 / Seite 33
Bildmaterial: dpa/dpaweb
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