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Vom Möglichkeitssinn


Die Documenta 11 ist so global angelegt wie das siebenköpfige Team ihrer Kuratoren, die aus Afrika, Europa, Nord- und Südamerika stammen. Die Frage, wer hier wen globalisiert, kommt jedoch nicht auf. Die interkontinentale Verschränkung stellt sich ohne ideologische Anstrengung ein. Weder werden Dialoge erzwungen noch Gegensätze programmiert, neben vielen Entdeckungen gibt es manche Wiederbegegnung - auch mit der eigenen Vergangenheit. Eine solche hatte ich mit Constant, von dem ich vor mehr als vierzig Jahren eine "Landschaft auf Rädern" für das Museum des 20. Jahrhunderts in Wien erwarb. Der Holländer verkörpert einen der Gewissenskonflikte des Jahrhunderts, denn er blickt in zwei Richtungen. Als Maler gründete er 1949 mit Asger Jorn die Gruppe CoBrA, doch bald befriedigte ihn das Malen nicht mehr, er begann, mit Skulpturen zu experimentieren, und expandierte schließlich in urbane Räume, die er New Babylon nannte. Was ihm vorschwebte, war die Vernetzung von Verkehrs-, Wohn- und Sozialräumen. Alles sollte sich ohne planende Festlegung ereignen - "im Einklang mit dem experimentellen Lebensspiel der Bewohner". Diese Architektur ohne Architekten ist in Kassel ausgebreitet. Die Modelle, die im Laufe der Jahrzehnte Atelierpatina angesetzt haben, erwecken Erinnerungen an die sechziger Jahre, als das Anti-Gesamtkunstwerk in der Luft lag. Offenbar resigniert wandte sich Constant seit 1974 wieder dem Bildermalen zu. Dennoch: Seine Wiederentdeckung in Kassel rehabilitiert den "Möglichkeitssinn" (Musil) und erinnert an gesellschaftliche Funktionen des Entwerfens, mit denen sich die heutigen Selbstdarsteller kaum belasten.

Angesichts der gegenwärtigen Reizüberflutung scheint wieder die Sprache des Verstummens angesagt. Man muß die Lebensumstände nicht kennen, von denen der Saal rechts neben dem Eingang in das Fridericianum verschlüsselte Nachrichten gibt, um zu spüren, daß sich hier eine Grenzsituation auftut. Die Stille und das Gewicht der toten Materie waren physisch zu erfahren. Ein Katafalk als Ambiente: Schwarze Gegenstände stehen sperrig und verschlossen herum; Truhen, Borde, Gerüste mit eingehängten Schriftrollen. Sind es Zurichtungen für einen Arbeitsprozeß oder dessen Überreste? Das ausgebreitete Material ist der Form gewordene Gestus einer Selbstbefragung, vorgenommen von einer jüdischen Frau, die in der Welt des Islam aufwuchs. Chohreh Feyzdjou kam 1955 in Teheran zur Welt und starb, fremd überall, 1996 in Paris, wo sie sich der Kunst zuwandte - Kunst, was für ein bequemes Etikett für soviel Verweigerung, eingerichtet von kundigen Händen und der Sprachlosigkeit überantwortet. Es heißt, der Raum versammle das ganze Lebenswerk. Lebens- und Totenraum zugleich, wird er bald zum Durchgangsraum der Besuchermassen werden. Wie wird das düster nüchterne "Depot" dieser Überschwemmung standhalten? Hinter der Frage steht Unbehagen. Abseitigkeit hätte Abgeschiedenheit erzeugt. Aber Meditationskapellen kann sich die Documenta nicht leisten.

Feyzdjou und Constant: Die Globalisierung überspringt die Kontinente, um letztlich doch zu zeigen, daß es Unvereinbarkeiten gibt - milder ausgedrückt: unterschiedliche Auffassungen von dem, was Kunst bewirken kann oder soll. Constant denkt in labyrinthischen, gleichwohl offenen, öffentlichen Räumen. Feyzdjou verbirgt sich in banalen Geräten und vermeidet rituelle Anmutungen. Constant entwirft Spielbretter der Kommunikation, Feyzdjou begnügte sich mit der bannenden Stille unverrückbarer Feststellungen.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 09.06.2002, Nr. 23 / Seite 24

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