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03.11.2005 - Kultur&Medien / Ausstellung
Sentimentale Geister
VON ALMUTH SPIEGLER
Ausstellungen London. Turner-Preis und Tate Modern.

D
as nennt man Partizipation, das nennt man Zettelwirtschaft: Der letzte Raum der diesjährigen Tur ner-Preis-Ausstellung in der Tate Britain ist fast schon vollständig mit den Kommentaren des Publikums tapeziert. Die Urteile fallen mal vernichtend, mal lobend, mal ausschweifend aus, manchmal wurde nur ein einzelner Namen mit fünf Rufzeichen hingeworfen. Darren Almond etwa. Ginge es nach der Stimme des Volkes, müsste der mit 60.000 Euro dotierte Preis am 5. Dezember wohl klar an den 1971 geborenen Multimediakünstler gehen.

Und irgendwie hat man auch gar keine rechte Lust, der Allgemeinheit in diesem Falle zu widersprechen. Almond schuf mit seiner sentimentalen Video-Rauminstallation "If I had you" den Erinnerungen seiner seit 20 Jahren verwitweten Großmutter eine berührende Manifestation. Während in der einen Ecke eine auf der Promenade des Ferienorts Blackpool gefilmte neonbeleuchtete Windmühle quietscht und in einem anderen ein kitschiger Springbrunnen plätschert, beobachtet Almonds Oma, vom Verzicht gezeichnet, ein übers Parkett gleitendes Fußpaar. In dieser Halle hat sie wohl selbst einmal getanzt, als sie hier am Meer ihre Flitterwochen verbrachte.

Obwohl der seit 1984 jährlich an einen in England arbeitenden Künstler unter 50 Jahren vergebene Turner-Preis durchaus auch zu einer Art nationalem Sport avanciert ist - inklusive öffentlicher Stimmabgabe, beeindruckend intensiver Beschäftigung mit den Künstlerpersönlichkeiten und großer Fernsehgala -, ist diese Auszeichnung auch international ein viel beachtetes Indiz für die Entwicklungen in der zeitgenössischen Kunst. So wundert es auch nicht, dass mit Gillian Carnegie (34) heuer erstmals nach fünf Jahren auch wieder eine traditionelle Malerei-Position nominiert wurde. Von ihren die Kunstgeschichte zitierenden düsteren Bildern mit Stillleben und Landschaften beeindrucken vor allem ihre reliefartigen, schwarz in schwarz gehaltenen Blicke ins Unterholz. Eines der ausgestellten Werke kommt übrigens aus Österreich, aus der Grazer Sammlung Stolitzka.

Eine Turner-Preis-Veteranin, die Gewinnerin vom 1993, dominiert zurzeit das Schwester-Museum der Tate Britain - die in ihren Ausmaßen schon fast erdrückende Turbinenhalle der Tate Modern. Die wichtigste lebende britische Bildhauerin, Rachel Whiteread - in Wien für ihr Denkmal am Judenplatz bekannt -, stapelte hier 14.000 weiße Plastik-Abgüsse vom Inneren alter Kisten und Schachteln zu einer kantigen, eisigen Gebirgslandschaft.

Inspiriert wurde sie zu dieser Installation von einem Karton mit Weihnachtsdekoration, den sie kurz nach dem Tod ihrer Mutter in deren Haus vorfand. Versetzt und tausendfach multipliziert bietet diese Negativform im Umfeld der Tate aber neben der persönlichen Geschichte auch andere Assoziationsmöglichkeiten: Das Museum als hohle, aber hoch ästhetische Speicherkapazität etwa. Trotz der Versuchung des Spektakels bleibt Whiteread auch hier, in der bereits von Kollegen wie Louise Bourgeois oder Olafur Eliasson bewältigten Turbinenhalle, ihrem stillen Anliegen treu - es sind die Geister menschlicher Produkte, menschlicher Kultur, die sie einfängt und wieder unter uns bringt.

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