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Die Stadt bleibt draußen


Immer wieder Architektur - seit ihrem Bestehen hat die Documenta über das Gebaute und das Ungebaute nachgedacht und dieses Nachdenken als unverzichtbar für die Erörterung eines zeitgenössischen Kunstbegriffes verstanden. Zuletzt hatte Catherine David, die Leiterin der Documenta X ein eigenes Itinerar durch die Stadt angelegt, und damit noch weitläufigere Fragen nach moderner Urbanität aufgeworfen, nach der Sichtbarkeit der Städte und ihrem ästhetischen wie gesellschaftlichen Potential.

Okwui Enwezor hat das Thema jetzt wieder aufgenommen - mit nicht geringerem Ernst. Auf der vierten seiner sogenannten Plattformen vor der eigentlichen Ausstellung ließ er am Beispiel afrikanischer Metropolen nach grundlegenden Maßstäben für die Erfahrungen modernen Lebens, nach neuen Konzepten von Identität im Zeitalter der Migration und nach der analytischen Verweiskraft der ungeordnet wachsenden urbanen Strukturen insgesamt fahnden.

Das alles geschah in Lagos und trug einem Status dieser Stadt Rechnung, den vor allem der niederländische Architekt Rem Koolhaas befördert hat: das Synonym von Vitalität und Kreativität schlechthin zu sein. Der Blick (zu befürchten ist: meist aus den oberen Etagen wohltemperierter Hotels und nicht frei von einer eigentümlichen neuen Sozialromantik) feiert den edlen Wildwuchs und das städteplanerische Scheitern als Chance.

Da er der Kunst mit ihrer Beschreibungskraft bei diesem globalen "mapping the territory" einen besonders wirkungsvollen Part zutraut, bestellt Enwezor nunmehr die Künstler zu Karthographen und setzt deren Arbeiten zur Kommentierung und schöpferischen Richtungsweisung ein: Bernd und Hilla Bechers strenge Fachwerk-Rhythmen aus dem Siegener Industriegebiet ebenso, wie die kindlichen, schrillen Pappsandburgstädte von Bodys Isek Kingelez oder die Fotostrecken von William Eggleston und David Goldblatt.

Daß aber die Kunst nicht unmittelbare Anwendung gestattet, auf Aufschub beharren und Distanz halten muß, nicht als Replikator, sondern vielmehr als "Schredder" für vorgegebene Theorien fungiert - wie Sarat Maharaj im lesenswertesten Beitrag des Katalogs schreibt - machen besonders die acht "Neuen Gebäude für Berlin" von Isa Genzken deutlich. Ihre lichten, farbigen Glaskonstruktionen ermöglichen ein anschauliches Nachdenken über Modalitäten und Erscheinungsweisen architekturbezogener Strukturen, die einer Eigengesetzlichkeit der Anordnung folgen und darin ernst genommen werden wollen. Vor allem aber sind es freie Formen reiner Schau; niemals Handreichungen, Anwendungsmodelle oder etwa Architektur selbst. Nicht von Ungefähr erinnern sie an Mies van der Rohes Wettbewerbsbeitrag für das Hochhaus an der Berliner Friedrichstraße von 1921 - ein Klassiker unter den Utopie gebliebenen Entwürfen des modernen Bauens.

Auch wer es nicht weiß, erkennt unmittelbar, daß die benachbarte Installation von Constants "New Babylon" (1956-1974) zu den frühen Kindheitseindrücken von Rem Koolhaas gehört hat. Er scheint die Welt auf der Suche nach diesem anarchisch-konstruktiven Konglomerat umrundet und es dann in Afrika gefunden zu haben. Ein folgenschweres Mißverständnis; wie auch die Tatsache, daß Constant hier wie um ein Lagos von Innen bittend auftritt. Constants Arbeit aber, der seit der Mitte der siebziger Jahre wieder ausschließlich malt, vorzugsweise im Stilhabitus seiner frühen CoBrA-Phase, vollendet sich in sich selbst. Nur um ein spätes Gemälde des Altmeisters ergänzt, hätten die babylonischen Phantasien in ihrer programmatischen Uneindeutigkeit, ihrem Kunstcharakter, ihrer Zugriffsverweigerung bewahrt werden können. Enwezor hat das Experiment nicht gewagt und überhaupt die Probe aufs Exempel gescheut. Denn erstmals kommt die Documenta, die noch jedes Mal das städtebaulich geschundene Kassel in ein vitales Labor urbaner Eingriffe verwandelte, weitgehend ohne städtischen Bezug aus; hat sich die Schau, die mehr als alle anderen zuvor von Territorium spricht, gleichsam exterritorial eingerichtet. Der Platz vor dem Fridericianum liegt wie verwaist; die Karlsaue muß mit einigen wenigen Spielstätten auskommen, und noch die neu erschlossene Brauerei betritt man von der stadtabgewandten Seite. War es Charles S. Peirce, der in einer pragmatischen Sentenz festgehalten hat, was sich auch in Kassel bewahrheitet: "The map is not the territory"?

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 09.06.2002, Nr. 23 / Seite 24

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