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Taxi Driver


Ein Shuttle-Taxi bringt den Besucher an die Peripherie dieses Ereignisses namens Documenta. Die Chauffeurin ist eine türkische Lehrerin, die im Auftrag des Schweizer Künstlers Thomas Hirschhorn einen regelrechten Fahrdienst ausübt: Sie entführt das Documenta-Publikum aus dem gewohnten Hallenbereich der Kunst ins Ambiente einer Arbeitersiedlung in Kassels Nordstadt.

Die Anreise ist bereits Teil der raumgreifenden Außeninstallation mit dem Titel "Bataille Monument", die Hirschhorn zur Documenta 11 beisteuert. Die Widmung erinnert an den französischen Philosophen Georges Bataille (1897-1962), dem der Künstler insbesondere die Idee der produktiven "Verausgabung" verdankt - im Sinne einer Theorie des vermeintlich Unzweckmäßigen. Hirschhorns "Monument" ist eine Probe auf's Exempel dieser These von der besonderen Qualität überschüssiger Energie. In einem sozialen und kulturellen Umfeld, das meilenweit von den Ambitionen der Kunst entfernt zu sein scheint, hat Hirschhorn für die kommenden hundert Tage seine Idealstadt errichtet. Vier aus Kanthölzern und Spanplatten gezimmerte, fliegende Bauten fungieren jeweils als Kiosk, Bibliothek, Ausstellungsgebäude und TV-Station. Hinzukommen eine begehbare Skulptur aus Karton, Holz, Plastikfolie und Klebeband sowie diverse Masten für Glühbirnen-Girlanden und ein Fußballtor. Alle Bauten erfüllen eine ihnen zugedachte Funktion: Die "Bibliothek" verwahrt in offenen Regalen, gegliedert nach den Rubriken Wort, Bild, Kunst, Sport und Sex achthundert Bücher aus dem Umfeld der Batailleschen Gedankenwelt. Die Bände, überwiegend lieferbare Titel, können ausgeliehen oder vor Ort gelesen werden; zwei Sitzgruppen nebst Couchtischen stehen bereit. Die "Ausstellung" entfaltet Biographie und Werk-Topographie des gelehrten Patrons, und das "Studio" dient der Aufzeichnung, Sendung (im Offenen Kanal) und Betrachtung von eigens angefertigten Beiträgen, Interviews, Diskussionen oder Dokumentationen. Vornehmlich junge Leute aus der Umgebung nehmen die Einrichtungen in Gebrauch - angeleitet vom Künstler und seinen Helfern. Merkwürdig berührt die offensichtliche Diskrepanz der verschiedenen Welten. Eine Büchersammlung, die den Grundstock einer zweiten Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg bilden könnte, will ganz und gar nicht in ein Milieu passen, wo an einem Hauseingang auf die Sprechstunden der Schuldnerberatung aufmerksam gemacht wird und eine andere Tafel die Mieter auffordert, "ihre Anlagen zu schützen". Auf dem Rasen kicken türkische Jugendliche auf ein Tor, während gerade eine ältere Frau ihre Weißwäsche auf einer Spinne ausbreitet. Von den Fenstern aus wird das Geschehen unten beobachtet. Wer jedoch wen ins Auge faßt, und wer eigentlich wem fremd ist, bleibt unklar. Sozialer Voyeurismus bestimmt beide Seiten, und auf beiden Seiten herrschen leichte Verwunderung und Unsicherheit. Die Bataille-Installation scheint tatsächlich als ein Katalysator zu taugen: sie bietet reale Podien an, die den einen als Spielplatz, den anderen als Arbeitsplatz und einigen als Ruhezone dienen. Die von außen Hinzutretenden nutzen sie vor allem als Schauplatz. Was zum Beispiel ist Neugier? Möglich, daß letztere einiges über sich erfahren, während sie für einen Moment vergessen, daß sie gerade die Documenta in einer ihrer nach Idee, Ausführung und Bestimmung gelungensten Stationen durchschreiten. Die Aspekte Kunst, Politik und Gesellschaft, die das Konzept der Großausstellung als zentrale Untersuchungskategorien nennt, werden in dieser künstlerischen Arbeit auf ganz eigene Weise angesprochen und reflektiert, indem sie in der Form einer sozialen und kommunikativen Plastik in Erscheinung treten: Verausgabung als künstlerisches Programm.

Später dann regnet es. Das Taxi ist gerade unterwegs, aber eine junge Frau, mit der man in der Bataille-Bibliothek ins Gespräch gekommen war, bringt den Besucher zurück in die Stadt. Die Holländische Straße, die man dabei entlang fährt, kommt laut Plan als Bundesstraße "aus Richtung Warburg". Man könnte den Künstler bei Gelegenheit vielleicht darauf hinweisen, möglich, daß es ihn interessiert. Im Augenblick jedoch hat er alle Hände voll damit zu tun, gemeinsam mit den Umstehenden Tische und Stühle vor dem Regen unter Dach und Fach seiner ebenso realen wie utopischen Modellbauten zu bringen, die im übrigen auch im Internet über die Adresse www.bataillemonument.de zu besuchen sind.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 09.06.2002, Nr. 23 / Seite 25

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