Nach einer knappen Dreiviertelstunde ist alles vorbei. Wolfgang Kos
hat dem Falter Rede und Antwort gestanden. 45 Minuten müssen für den einen
oder anderen guten Sager reichen, das weiß einer, der seit 35 Jahren für
den Rundfunk arbeitet. Österreichs hurtigster Feuilletonist springt vom
Tisch im Café Resselpark auf und steckt die Zigarilloschachtel ins Sakko.
Für private Fragen ist kaum Zeit geblieben. "Was bedeutet es Ihnen, mit 53
zum ersten Mal Vater zu werden?" "Das macht mutig", und schon ist Kos
wieder weg - unterwegs zu einem Gespräch mit dem Hörfunkintendanten. Am
Ende dieses Jahres wird Kos den ORF verlassen, um im April 2003 seine
Arbeit als Direktor des Historischen Museums anzutreten. Die
offizielle Bezeichnung des in Mödling als Sohn eines Hofrates Geborenen
wird lauten: "Direktor der Museen der Stadt Wien". Neben dem großen Haus
am Karlsplatz gehören nämlich noch über zwanzig kleinere Schauräume,
Sammlungen und Gedenkstätten zu Kos’ zukünftigem Reich: die Hermesvilla im
Lainzer Tiergarten, die Modesammlung in Schloss Hetzendorf, das
Uhrenmuseum oder die Mozart-Gedenkstätte Figarohaus, die im Jahr 2000 fast
genauso viele Besucher hatte wie das bei Wien-Touristen kaum bekannte
Historische Museum am Karlsplatz. Der promovierte Historiker Kos
braucht das Ende einer Interviewfrage nicht abzuwarten, um zu einer
Antwort auszuholen. Manchmal lässt er das Verb weg, um möglichst schnell
zum Punkt zu kommen und, dort angelangt, differenzierende Begriffe zu
häufen. Nein, der berufliche Wechsel von einer Seite des Mikrofons auf die
andere sei nichts Neues für ihn. "Ich habe in meinem Leben oft
Veranstaltungsreihen und Ausstellungen promoten müssen. Ich musste
versuchen, gute Sager für meine Kollegen parat zu haben, damit sie auch
was schreiben." "Ich kenne niemanden, der in seinem Alter noch so
herumspringt, körperlich wie geistig", meint die Kunsthistorikerin Stella
Rollig, die Kos als Mentor ihrer Tätigkeit als Radiojournalistin
bezeichnet. 1996 holte sie ihn selbst als Kuratorin für bildende Kunst in
den Vorstand des Kunstvermittlungsvereins depot, dem Kos bis heute
angehört. Im krassen Gegensatz zu seiner leidenschaftlichen Motorik
steht die Programmatik von Kos’ Ausführungen, die im Wesentlichen von
kultureller Verlangsamung handelt. Bezeichnend ist seine Begeisterung für
den Ort des Interviews, ein Café, das kaum einem der 50.000 Passanten
auffällt, die täglich über den Karlsplatz strömen. Für ihn ist es ein
hortus conclusus, eine Jausenstation im Wienerwald mitten in Wien, ein
wunderbares Bauwerk. "Man sollte es sich einmal architekturgeschichtlich
anschauen: ein Mittelrisalitbau in Holz." Als passioniertem
Stadtspaziergänger ist Kos der Karlsplatz gleichwohl ein Gräuel (siehe
auch Interview). Kos ist einer der leistungsfähigsten kulturellen
Durchlauferhitzer des Landes. Aber als gelernter Historiker weiß er, dass
Zeit vergehen muss, bis man die notwendige Distanz bekommt: "In der
Geschichtsschreibung ist ein Mindestabstand notwendig. Als Historiker kann
man nicht die Geschichte des heutigen Tages schreiben." In blumigen Worten
lobt Kos die Langsamkeit. "Im Zeichen der Schnecke" - mit diesen Worten
begann ein Vortrag über die Zukunft städtischer Museen. "Popmuseum"
lautete der paradoxe Name einer legendären Ö3-Sendung, die Kos von 1974
bis 1995 gestaltete. Auch bei der von ihm zusammen mit Edek Bartz im
Rahmen der Wiener Festwochen konzipierten Konzertreihe "Töne &
Gegentöne" (1983-1991) trat Kos auf die Bremse. ",Töne & Gegentöne'
war so erfolgreich, dass wir das Festival jedes Jahr machen wollten.
Wolfgang bestand auf dem Zweijahresrhythmus mit der Begründung, er brauche
Zeit, um bewerten zu können, was es interessantes Neues gibt", erinnert
sich Bartz. "Was zählt, das liegt dazwischen", textete Kos für eine
Nummer der von ihm mit Edek Bartz gegründeten New-Wave-Band Leider keine
Millionäre. Um dieses Dazwischen zu veranschaulichen, scheut Kos keinen
Aufwand. Zum 60. Jahrestag der Gründung der Ersten Republik rekonstruierte
er für das Radio mithilfe von Zeitungen, Büchern, Polizeiakten, Briefen
und Zeitzeugen den 18. November 1918. Damals erkundigte sich der Pianist
Paul Wittgenstein per Inserat im Neuen Wiener Tagblatt nach dem Verbleib
seines Bruders Ludwig, wurde zum ersten Mal Arbeitslosengeld ausbezahlt
und stürmten im steirischen Strass Dorfbewohner die Kaserne. Nicht - wie
sich im Zuge der Kos’schen Recherchen herausstellte - als Auftakt zur
Revolution, sondern wegen einer simplen Liebesgeschichte. Kos’
Radio-Feature war genau das, was er selbst als eine "Tiefenbohrung von
mikroskopischer Genauigkeit" nennen würde. Ähnlich tief und genau gebohrt
war die von ihm kuratierte Niederösterreichische Landesausstellung 1992
über den Semmering. Die Ausstellung hieß "Die Eroberung der Landschaft -
Semmering. Rax. Schneeberg", fand auf Schloss Gloggnitz statt und war wohl
einer der triftigsten Gründe für den Wiener Kulturstadtrat Andreas
Mailath-Pokorny, den gebürtigen Mödlinger zum Herrn über 135 Mitarbeiter
und 1,7 Millionen Objekte einzusetzen. Kos präsentierte das Gebiet
zwischen Schneeberg und Raxalpe als touristische Urszene. Für ihn stellte
die Ausstellung den Versuch dar, die Theorien des Kulturwissenschaftlers
Wolfgang Schivelbusch, der 1977 seine "Geschichte der Eisenbahnreise"
veröffentlicht hatte, auf ein Panorama des 19. Jahrhunderts anzuwenden.
"Mich interessierte der Semmering als Landschaft in der Nähe einer
Großstadt, aufgeladen mit zivilisatorischer Inszenierung, die die
Semmeringbahn als Triumphmarsch der Eisenbahnkunst im 19. Jahrhundert zum
Ausgangspunkt hatte." Kos’ Semmering-Recherche beruhte auf dessen 1984
fertig gestellter Dissertation im Fach Geschichte. Es war der zweite
Anlauf. Der erste scheiterte am Thema "Die Entnazifizierung in Österreich
1945-1949". "Es war zu große für einen Nebenberufsgeschichtsstudenten. Zum
anderen war damals keine Partei bereit, mich in ihr Archiv zu lassen. Ich
hatte Parteitagsprotokolle und wusste, in welcher Partei wer dafür
zuständig war, die Nazis reinzuholen. In einem Geschichtswerk muss das
aber belegt werden, und es war unmöglich, sichere Quellen dafür zu
finden."
Neben Popkultur und Geschichte gehört auch die bildende
Kunst zu den Betätigungsfeldern des Generalisten Kos. Er kuratierte 1997
die Ausstellung "Alpenblicke. Die zeitgenössische Kunst und das Alpine" in
der Kunsthalle Wien, für die er zurzeit - gemeinsam mit Thomas Mießgang -
eine Ausstellung über den Umgang von Künstlern mit der Rockgitarre
vorbereitet. Kos’ Kunstleidenschaft wird nun auch an seinem neuen
Arbeitsplatz nicht zu kurz kommen. Das Historische Museum verfügt über
eine schöne Kunstsammlung - vom Altertum bis in die Gegenwart. Dennoch
möchte er nicht, wie es Peter Noever mit dem von ihm geleiteten Museum für
angewandte Kunst getan hat, aus einem Sachmuseum eine Kunsthalle machen.
"Der heikle Punkt ist, dass sich die Kunst sehr viele Bereiche erobert
hat. Künstler glauben, sie sind die besseren Globalisierungskritiker, sie
können wesentliche Aussagen zur Geschlechterpolitik machen, zur Urbanistik
sowieso. Ich finde das faszinierend, aber auch ein bisserl einen
Wahnwitz." Kos ist kein Thema zu abgelegen, kein Name zu unbedeutend.
Nicht umsonst ist eines der am häufigsten von ihm verwendeten Wörter
"interessant". Sein Interessantismus legt sich ebenso über die Anfänge des
Reggae wie über den isländischen Künstler Olafur Eliason, das Kulturleben
der senegalesischen Hauptstadt Dakar oder die neuen Lokale am Wiener
Gürtel. Der leicht geschmäcklerische Hang zum Archivieren des
Aktuellen, der Wolfgang Kos auszeichnet, könnte sich gerade im Fall des
Historischen Museums als Kardinaltugend erweisen, denn das Historische
Museum hat die neuere Stadtgeschichte bislang kaum berücksichtigt. Seine
Begeisterung für die auf Schmetterlingsnadeln gespießte Gegenwart
erläutert Kos anhand jener Abteilung des Historischen Museums, in der
komplette Zimmer gesammelt werden: das Wohnzimmer von Adolf Loos, das
Schlafzimmer von Franz Grillparzer, aber auch ein Wiener Kaffeehaus. "Wenn
ich lese, dass im Jahr 2002 in Wien Kommissariate geschlossen werden,
überlege ich mir als Zeithistoriker, was das bedeutet. Ich war schon
relativ oft in meinem Kommissariat. Dabei ist mir aufgefallen, dass diese
Räume gewissermaßen einen visuellen Geruch haben. Das sind interessante
Orte, die sich neben der Zeit entwickelt und nicht alle Modernisierungen
mitgemacht haben. Wenn ich in dreißig Jahren davon erzählen möchte, muss
ich so gut wie Thomas Mann sein oder Heimito von Doderer, um das
festzuhalten: von der spartanischen Möblierung bis zu den hilflosen
Behübschungsversuchen. Da ist mir auch wichtig, welche Ansichtskarten an
der Wand hängen: von tropischen Inseln und nackerten Frauen bis zu
Bürosprüchen."
Kurze, prägnante Sätze; treffsichere Metaphern; eine
Intonation, die die Melancholie einer Bruce-Springsteen-Nummer erreichen
kann: Das ist Wolfgang Kos, wenn er im Radio spricht. 1968, noch während
des Studiums, begann er für die Jugendradiosendung "Musikbox" zu arbeiten.
"Ich musste erst einen Stimmkurs machen weil ich alles verschluckt habe",
erinnert sich Kos, der eigentlich Sportreporter werden wollte. "Jemand
anderer hat meine Texte vorlesen müssen. Meine Stimmen waren Wolfgang
Hübsch, Franz Morak, Ludwig Hirsch. Morak war in einer Serie über David
Bowie ideal, weil er den leicht zynischen Ton von Bowie wunderbar
traf." Der Musikjournalist Fritz Ostermayer, selbst einer der vielen
von Kos fürs Radio Entdeckten, hält dessen Stil für oft kopiert, aber nur
dann erreicht, "wenn seine Nachahmer zu einem eigenen Stil gefunden
haben". "Er war in Österreich der erste, der, lange vor der Rezeption der
Cultural Studies, Pop feuilletonistisch angegangen ist. Er kann Inhalte
unhysterisch vermitteln und sah sich immer als Moderator - im Sinne eines
Gustomachers." Kos nennt sich selbst einen "Volksbildner"; er rückte
für das Ö1-Publikum Nick Cave in die romantische Liedtradition eines Franz
Schubert und vermittelte andererseits den jungen Ö3-Hörern, "dass Popmusik
nicht nur Herz und Spatzerl ist" (Ostermayer). Die Ö1-Sendung "Diagonal -
Radio für Zeitgenossen", die Kos seit 1984 gemeinsam mit Michael Schrott
leitet, gilt als angesehenes Radiofeuilleton. Ein Defizit seiner
intellektuellen Ausrüstung gesteht Kos ein: "Ich bin recht schwach in
Theorie. Von den neuen linken Büchern in den Siebzigerjahren bis zu den
Gender Studies heute - das alles verstehe ich nur zum Teil. Ich weiß
immer, welche gerade in Mode sind, und finde sie auch recht anregend, weil
sie einen gewissen Sog entwickeln. Ich habe mich aber eher pragmatisch an
Beispielen der Kulturgeschichte orientiert." Als weitere Schwachstelle
könnte sich Kos’ leicht monomaner Arbeitseifer erweisen. Seine
Auffassungsgabe ist groß, und er arbeitet so effektiv, dass in kürzester
Zeit jede von ihm aufgenommene intellektuelle Regung verkost wird - eine
Fähigkeit, die er mit dem von ihm geschätzten Künstler und Theoretiker
Peter Weibel teilt. Er selbst sieht sich freilich als Teamarbeiter; und
Feldherren, so meint Kos, gebe es unter Wiens Museumsdirektoren schon
genug.
INTERVIEW WOLFGANG KOS "Der
Karlsplatz ist so uninteressant!"
Falter:
Das Historische Museum liegt am Rande des Karlsplatzes, dort, wo niemand
durchgeht. Wie wollen Sie dem Museum zu mehr Sichtbarkeit
verhelfen?
Wolfgang Kos: Ich werde alles unterstützen, was
mit Kunst im öffentlichen Raum zu tun hat. Interessant sind kluge,
interessante, feine Einzelmaßnahmen, die nicht nur L'art pour l’art sind,
sondern jeweils einen sozialen und stadtorganisatorischen Zweck erfüllen.
Hier ist die Kunst als Dienstleister gefragt. Zum Zweiten hoffe ich, dass
es einen konzeptiven Sprung über die breite Straße vor dem Museum gibt,
die ja nach den Plänen der Architekten Jabornegg & Pálffy schmäler
werden soll. Wenn die Straßenbahnlinie J nicht mehr den Bogen über den
Platz vor dem Künstlerhaus macht, ist auch der "Bahndamm" nicht mehr
notwendig, der das Schlimmste am Karlsplatz ist. Es geht darum,
Blickbeziehungen herzustellen. Stadtwahrnehmung läuft über Blicke, über
gewohnte und überraschende.
Das Künstlerhaus
möchte unterirdisch ausbauen. Was ist mit den Plänen des Historischen
Museums, Räume vom Künstlerhaus anzumieten?
Ich hoffe sehr,
dass die Kooperation zustande kommt, auch, um dieses sensationelle
Ausstellungshaus gelegentlich bespielen zu können. Wenn der unterirdische
Ausbau tatsächlich realisiert wird, kann nur etwas Gutes dabei
herauskommen.
Wie ist Ihre Sicht auf den
Karlsplatz als Stadtbenutzer?
Ich lebe eine Minute vom
Karlsplatz entfernt und liebe ihn nicht. Wenn ich in den ersten Bezirk
will, gehe ich manchmal zu Fuß stadtauswärts zur U-Bahn-Station
Taubstummengasse, um den Karlsplatz zu unterfahren, weil das Drübergehen
wirklich fad ist. Mein Problem ist nicht, dass hier viele Menschen
herumstehen, die etwas mit Drogen zu tun haben. Aber der Karlsplatz ist so
uninteressant! Ich hasse diese friedhofsartige Bepflanzung entlang der
Mäuerchen. Wenn die künftigen Ideen für den Karlsplatz mit der
Bereitschaft der Stadtgärtnerei gekoppelt werden, den Bewuchs radikal zu
entrümpeln, kann ich mir vorstellen, dass vieles gelingt. Jan Tabor
(Falter-Architekturkritiker, Anm. d. Red.) hat auf einer
Diskussionsveranstaltung allerdings das Weiseste zum Thema gesagt: "Es
kann keine Generallösung geben." Jeder, der das versucht, muss scheitern.
Interview: Matthias Dusini
|