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09. - 31. 10. 03] [a]
Schleifen des
Bedeutens
Dem Archiv kommt in der gegenwärtigen philosophischen
und kunsttheoretischen Diskussion eine besondere, von manchen geradezu als
inflationär bezeichnete Aufmerksamkeit zu. Große Ausstellungsprojekte der
vergangenen Jahre (Kunstraum Lüneburg, Haus der Kunst München,...) haben sich
sowohl mit archivarischen Praktiken als auch mit einzelnen Aspekten des Begriffs
„Archiv“ auseinandergesetzt. Das Zirkulative von Archiv und Gegenwart ist in der
zeitgenössischen Kunstpraxis ein immer wiederkehrendes und spannend bleibendes
Thema. Archive – private und öffentliche - stellen vielfach eine
Arbeitsgrundlage oder Ausgangsbasis für Kunstproduktionen dar, insofern Archive
ganz allgemein als Räume des Möglichen hinsichtlich seinen Potenzialitäten für
Gegenwart gelten: Vergangenes, das sich fortwährend von den sich wandelnden
Bezugsrahmen der Gegenwart neu organisieren lässt, de-semantisierte Zeichen, die
im erneuten Lesen mit neuer Bedeutung aufgeladen werden.
Irit Rogoff’s
Annahme, dass wir gewissermaßen alle in einer Art von Archiv leben, aus dem
heraus wir uns die Welten, in denen wir uns befinden, vorstellen und verstehen,
erlaubt eine über das konventionelle Verstehen des Archivs als real
existierenden Ort der Selektion, des Sammelns, Registrierens und Klassifizierens
von historischen Fakten und Ereignissen hinausgehende Sichtweise. Archive sind,
so Michel Foucault, niemals passive Speicher, vielmehr selber aktiv, flüchtig
und in permanentem Fluss. Archive produzieren Formationen und Transformation
gleichzeitig, sie werden am Leben gehalten von der Illusion eines „verwertbaren
und ständig zur Verfügung stehenden Besitzes“ ebenso wie von den
(Un)-Heimlichkeiten, die sie zwangsläufig mitproduzieren.
Welche „Bilder“
im weitesten Sinne aktualisiert werden, mit welchen sie kontextualisiert und
verknüpft werden und welches Wissen dabei generiert wird, ist eine der zentralen
Fragen, die über grenzenlos scheinende Verfügbarkeiten durch neueste Speicher-
und Übertragungstechnologien auch hinsichtlich des Umgehens mit Informationen
eine neue Relevanz erhält.
Über eine künstlerische Verwendung von „found
footage“ hinausgehend beschäftigen sich die für die Ausstellung ausgewählten
Arbeiten mit den unterschiedlichen Rhetoriken des Faktischen einerseits, wobei
dem Nicht-Vorhandenem, mithin der Ausblendung und dem Vergessen eine
konstitutive Funktion zufällt, und mit dem Unbewussten andererseits: dem Archiv
als Baustelle phantasmatischer Fiktionen. Geschichte und Erinnerung, die beide
für die Bildung nationaler wie personaler Identitäten als Grund legend gelten,
sind nicht als etwas bereits Gegebenes, sondern als permanente „Konstruktionen“
und Herstellungen zu sehen, die immer auch von strategischen Manipulationen
signifikanter Elemente begleitet sind. Dennoch gibt es hierbei keine wie auch
immer geartete freie - dem Sampling in der Musik vergleichbare -
Modulierbarkeit, vielmehr sind Erinnerungs- und Geschichtsdiskurse davon
beherrscht, dass die aktualisierten Elemente auf einen gegebenen früheren
Kontext verweisen müssen, auch wenn sich dieser als lediglich fiktiver
darstellt. In diesem Zwischenfeld der Gleichzeitigkeit von Gewesen und Präsent –
dem past/perfect - bewegen sich auch die künstlerischen Arbeiten.