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16.05.2003 - Ausstellung
"Ich bin eben ein Harmoniker"
Harald Szeemann, Documenta 5- und zweimaliger Biennale-Macher, ist mit 70 Jahren immer noch rastloser Kurator.


Die Presse: In Österreich gab es bereits einige Ausstellungen über Kunst aus Südosteuropa. In Graz, in Wien. Was macht Ihre besonders?

Harald Szeemann: Erstens möchte ich aufräumen mit diesem Bazar-Image vom Balkan, das auch noch sehr stark in Graz geherrscht hat. Auf der anderen Seite habe ich auch andere Künstler ausgewählt.

Aber warum jetzt schon wieder Kunst aus dem Osten?

Szeemann: Ich finde, es sind die Länder interessant, die eine bewegte Geschichte gehabt haben in den letzten Jahren - ob nun China oder Südosteuropa. Bei uns plätschert alles nur dahin, es ist alles akzeptiert.

Unterscheidet sich die junge Kunst aus diesen Ländern noch stilistisch von unserer, oder ist alles international nivelliert?

Szeemann: Es sind ganz andere Aufarbeitungen. Es gibt mehr Tabubrüche, gegen innen gewissermaßen - die Verarbeitung des Krieges der Kosovo-Künstler oder die Aufbrechung der Tabus, denn nach den albanischen Gesetzen zählt die Frau nicht. Die hat immer die Patrone im Rücken, wenn sie sich auflehnt gegen den Mann kann sie geschlagen, gebunden, gefesselt, getötet werden, ohne dass sie in die Blutrache fällt. Das ist immer noch so. Die haben noch so viel abzutragen, damit vielleicht auch dieses Südosteuropa eines Tages wieder eine multiethnische Einheit wird. Ich bin natürlich immer ein Harmoniker. Da unten passieren die absurdesten Dinge. Da gibt es eine Farbigkeit, die bei uns durch die Demokratie verloren gegangen ist.

Das sagen Sie als Schweizer?

Szeemann: Ich habe jetzt gerade erst geschrieben, man sollte die Schweiz in eine Stiftung umwandeln. Aber es ist ja nicht so, dass ich erst jetzt den Balkan entdecke. In den 70er Jahren waren wir alle am Balkan. Da existierte eine ganze Avantgarde in Belgrad. Und auch während meiner Biennale-Zeit bin ich nach Rumänien, Bulgarien, Armenien, in die Ukraine gefahren. Die Künstler sind so froh, wenn jemand zu ihnen kommt. Bei meinen Recherchen war ich auch im Kosovo und dachte, Peter Weibel muss doch gerade hier gewesen sein wegen seiner Ausstellung letztes Jahr in Graz - aber es hat ihn niemand gekannt . . .

Es gibt in diesen Ländern praktisch keine Galerien, keinen Markt für aktuelle Kunst.

Szeemann: Das ist es ja. Aber sie sind trotzdem alle vernetzt. Es gibt da einige besonders engagierte Frauen. Die Information läuft über die Künstler - wie es in den 50er Jahren auch bei uns war. Das fasziniert mich. Da ist noch Farbe, da ist noch Leben.

Aber das ist doch auch ein Klischee - bunt und lustig . . .

Szeemann: Es geht nicht darum, dass es bunt und lustig ist, sondern dass man die Energien, die sich nun in visualisierter Form äußern, ernst nimmt. Es ist nicht von ungefähr, dass Südosteuropa jetzt entdeckt wird, weil hier das Subversive ist. Und dieses Verändern-Wollen setzt andere Energien frei, als wenn man sich ewig im Wettstreit mit ästhetischen Formen befindet.

Warum tauchen dann aber so selten Namen aus diesen Gruppenausstellungen wieder in Einzelausstellungen auf?

Szeemann: Das kommt noch. Und Wien ist historisch gesehen der richtige Punkt, um anzufangen. Und die Künstler sagen jetzt, das ist vielleicht die letzte dieser Gruppenausstellungen und was jetzt beginnt ist der Individualismus. Aber das war eigentlich mit allem so.

Hat Essl eigentlich etwas angekauft von den Exponaten?

Szeemann: Bis jetzt nicht. Aber das ist seine Geschichte. Ich habe die Ausstellung gemacht, ob er jetzt davon profitieren will . . . ich bin kein Pusher, ich denke schon wieder an die nächste Ausstellung: eine Skulpturenschau in einem Dorf am Lago Maggiore und zwei Räume beim Filmfestival in Locarno. sp



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