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Auf der Manifesta 2 in Luxemburg hatte
Ann-Sofi Sidén 1998 im Casino eine raffinierte Kammer eingerichtet. Von
Handtuchstapeln und Toilettenpapierrollen umgeben standen in einem
Regalsystem eineinhalb Dutzend Monitore bereit, die mit ruhigen
schwarzweissen Videobildern Menschen im Hotel zeigten. Erst bei den
Details von ‹Who Told the Chambermaid?› wurden die Besucher stutzig: Man
sah eine nackte Frau im Badezimmer, innig umschlungene Liebespaare und
nervöse Anzugträger, die mit sich selbst allein gelassen die Wände
anstarrten. Die Normalität des Alltäglichen wirkte verblüffend intim, fast
mochte man aus Angst vor dem eigenen Voyeurismus nicht hinsehen.
Tatsächlich beschäftigt sich die in Stockholm lebende Künstlerin mit
Grenzerfahrungen – auf beiden Seiten der Kamera. Für ihren ersten Film
‹Queen of Mud Visits the Perfume Counter› von 1989 liess sie sich selbst
in der Rolle einer nackten, nur mit Schlamm bedeckten Figur dabei filmen,
wie sie in einem Geschäft Parfüm ausprobierte. Nach wenigen Minuten machte
der Wachschutz der Performance ein Ende. QM ist seither in gut einem
Dutzend Videos und Spielfilmen das Alter Ego von Ann-Sofi Sidén geblieben.
In dieser Maskerade brachte sie ihrem Publikum die Unsicherheit einer
fremden Existenz näher und stellte gleichzeitig eine Möglichkeit zur
Identifikation mit dem Anderen her. Noch in dem 1996/97 gedrehten Film
‹QM, I Think I Call Her QM› (Co-Regisseur Tony Gerber) liegt in der
Begegnung der Psychiaterin Ruth Fielding mit dem rätselhaften Alienwesen
eine ungeheure Spannung: Hier die Ärztin, die selbst unter
Zwangsvorstellungen leidet, und auf der anderen Seite QM als stummes
Wesen. Auch in der Videoinstallation ‹Warte mal!›, 1999, für die Wiener
Secession, werden starke emotionale Schwankungen sichtbar. In sehr
privaten Gesprächen erzählen tschechische Prostituierte über ihre realen
Ausbeutungsverhältnisse im Sexgeschäft. Dabei verzichtet Sidén auf jeden
Kommentar und lässt stattdessen den Besucher mit der Unsicherheit (und der
physischen Präsenz) der Protagonisten kommunizieren. Im Arrangement aus
neun Einzelgesprächen und vier Grossprojektionen verdichtet sich dadurch
die visuelle Ebene, bis sich der Betrachter als Teil der Installation dem
Geschehen nicht mehr entziehen kann. Die Frauen sprechen von
Abhängigkeiten, die man aufgrund der Bilder erahnt, aber nicht als solche
sieht. Sie stellen sich allerdings umso stärker ein, je mehr man von den
Prostituierten erfährt. Das ist Sidéns Stärke: Sie lenkt die
Aufmerksamkeit auf das Alltägliche und schärft den Blick für Macht- und
Gewaltverhältnisse.
Harald Fricke: In deinen Arbeiten spielt
der Übergang zwischen Fact und Fiction eine grosse Rolle. Das fängt mit
Queen of Mud als Alien-Figur an und endet bei einer Videoinstallation über
Prostituierte im tschechischen Dubi. Wie hast du von der Performance zu
einer fast dokumentarischen Arbeitsweise gefunden? Ann-Sofi Sidén: Ich
glaube, es liegt daran, dass ich mich mit dem, was ich sehe,
identifizieren kann. Bei den Performances als Queen of Mud (QM) ging es um
Maskerade und Verkleidung. Als ich zum ersten Mal im Stockholmer
NK-Kosmetikgeschäft auftrat, war mir klar, dass meine Erscheinung als QM –
nackt und nur mit Schlamm bedeckt – einige Wirkung erzielt. In späteren
Arbeiten wie ‹Who Told the Chambermaid?› benutzte ich Überwachungskameras
in Hotelzimmern als mein Auge. Dabei habe ich mich mehr zurückgehalten und
nur durch die Auswahl der Menschen, die sich filmen liessen, in die Arbeit
eingegriffen. HF: Sind die Hotelzimmer nicht auch eine Art Bühne, auf der
sich die Realität der Hotelgäste abspielt? ASS: Es geht mir um das, was in
einer aussergewöhnlichen Situation passiert und wie man solche Phänomene
darstellen kann. Ab einem bestimmten Punkt wurden die Räume im Hotel für
mich transparent. Ich konnte praktisch durch die Wände sehen und erkennen,
wie sich ein solches ‹Heim auf Zeit› darstellt. Die spannende Frage ist
dann: Wird es den Betrachtern ebenso ergehen, wenn sie die fertige Arbeit
sehen? HF: Wenn schon Identifikation im Mittelpunkt steht, warum hast du
für QM ein fiktionales Wesen gewählt? ASS: Ich war damals vollkommen von
Science-Fiction eingenommen. Gleichzeitig geht die Figur von einem eher
traurigen Gedicht aus, das ich über mich selbst geschrieben habe. Dafür
wollte ich eine Person wählen, die so hässlich wie möglich aussah – was
aber bei QM doch nicht ganz so geklappt hat, da das Hässliche ab einem
gewissen Grad seinen eigenen Charme hat. HF: Wieso sollte QM als Alien in
die reale Welt integriert werden? ASS: Sie ist für mich ein
unbeschriebenes Blatt Papier. Sie spiegelt jede Situation wider und
erscheint doch einigermassen absurd – ob beim Parfümtest, in der Talkshow,
als Gast einer Kunstmesse oder beim Fruchtbarkeitstest. HF: Bei einem
Künstler wie Matthew Barney wird das Absurde durch die Künstlichkeit
verstärkt, während QM doch in realen Alltagssituationen agiert. ASS: Die
Motivation, mit einer Figur wie QM zu arbeiten, lag in der konkreten
Einbindung ins Leben. Es gab zwar sehr fiktionale Elemente, zum Beispiel
die Vorstellung, dass sie sich nur über den Geruchssinn an etwas erinnern
kann. Aber daraus entstand dann die Idee mit dem Parfümgeschäft. Und in
dieser Situation kam dann wieder der Gegensatz von Schönheit und
Hässlichkeit zum Tragen. Diese Ambivalenz zieht sich durch meine gesamte
Arbeit. Ich will so polarisieren, dass die Extreme aufeinander treffen: Im
Film ‹QM, I Think I Call Her QM› sieht man eine äusserst paranoide und
ebenso intellektuelle Psychiaterin Ruth Fielding, die in ihrer
übersteigerten Sprache mit einer stummen, mit Schlamm bedeckten Person zu
kommunizieren versucht, die aber überhaupt nicht darauf reagiert. HF: Wie
passen deine Performances zu situationsbezogenen Arbeiten der neunziger
Jahre? ASS: Heute wie schon in den siebziger Jahren geht es um das
Zusammenspiel zwischen Ort und Publikum. Wenn mir etwas Farbe oder Schlamm
vom Körper abbröckelt, dann beziehe ich diese Veränderung sofort in die
Performance mit ein. Man gibt eine vage Richtung vor und wartet ab, was
passiert. Das gefällt mir auch an Regisseuren wie Mike Leigh. Er
improvisiert, aber er achtet auf das Timing. Dadurch entsteht ein starkes
Gefühl für Wirklichkeit. HF: Wenn man Aufnahmen von QM sieht, ist man
immer wieder erstaunt über die enorme physische Präsenz der Figur. Liegt
es daran, dass man beim Betrachten der Handlung die Umstände der
Inszenierung vergisst? ASS: Ja, und dieses Wissen um die Wirkung des
Mediums hilft mir auch, solche Performances überhaupt durchzuführen. Das
gleiche gilt wohl auch für die Menschen, die sich freiwillig im Hotel
haben filmen lassen. Zu Beginn waren sie ziemlich nervös, weil sie
dachten, ich würde ihnen die ganze Zeit zuschauen. Aber das war nie meine
Absicht. Ich habe das Band laufen lassen und bin wieder gegangen. Dadurch
hatten sie weniger Angst, sich falsch zu verhalten. Es ging darum, eine
Feinabstimmung zwischen handelnden Individuen und dem Konzept der
Überwachung zu finden, ohne sich zu sehr einzumischen. Schlimm wurde es
erst beim Schnitt. Wir hatten einige hundert Stunden Material und mussten
daraus aussagekräftige Bilder zusammenschneiden – von Close-Ups auf das
Bett bis zur zweiten Kamera, die im Bad installiert war. Manche Szenen
wurden mit sieben Kameras gleichzeitig gefilmt. HF: Statt Regieanweisungen
zu geben, überlässt du das Geschehen den aufzeichnenden Maschinen? ASS:
Die Kamera macht den Job, wenn du sie richtig installiert hast. Dabei muss
man auch sehen, mit was für einem geringen technischen Aufwand meine
Arbeiten produziert sind. Je kleiner der Apparat, desto grösser ist die
Nähe zum Gegenstand. Das merkt man bei den Videos über die Prostituierten:
Wäre ich mit professionellem Filmgerät nach Tschechien gefahren, hätte
sich das Geschehen sicherlich nicht so selbstverständlich vor der Kamera
abgespielt. Mit einem aufwendigen Equipment hätte ich wohl kaum das
Vertrauen der Frauen und der anderen Personen gewonnen, die an diesem
Geschäft beteiligt sind. HF: Wie kommt es in deiner Arbeit zu der
Zuspitzung von individuellem Leid und der Unfähigkeit, mit der Umwelt zu
kommunizieren? ASS: Identifikation ist der Schlüsselbegriff. Für mich
verdichten sich alle Erfahrungen in den Figuren. Wenn ich mich mit
Prostituierten in Tschechien beschäftige, dann geht es um das
grundsätzliche Verhältnis zu Sexualität, Feminismus, Macht, Geld. Das sind
aber nicht nur für mich, sondern auch für jeden anderen fundamentale
Erfahrungen. Und die Installation handelt davon, wie man diese
kommunizieren kann. Natürlich ist bei solchen Prozessen ein Grundwissen
über Psychologie hilfreich. Gleichwohl möchte ich die Dinge als Tatsachen
behandeln und nicht als Folge einer Interpretation. Der Umgang mit den
Menschen in meinen Filmen ergibt sich aus diesem unmittelbaren Interesse –
die Frauen reden mit mir und zugleich vor der Kamera. Ich habe drei
Perspektiven miteinbezogen: Es gibt den anonymen Blick des Kunden oder
Touristen aus dem Auto heraus. Dieser Position habe ich meine private
Beteiligung an der Sache mit einem gefilmten Tagebuch und
Fotoschnappschüssen gegenübergestellt, dazu der Raum mit dem Video, wo ich
mit den Mädchen auf einer Party tanze. Der dritte Blickpunkt ist weiter
gefasst und besteht aus neun Interviews mit den Prostituierten, der
Polizei und anderen Beteiligten vor Ort. HF: Wie passen im Sinne der
Identifikation die Nähe und die Anonymität von Überwachungskameras
zusammen? ASS: Überwachung und Kontrolle sind letztlich
Sicherheitsvorkehrungen, die im Ernstfall niemanden schützen. Man kann
Kameras in einer Bank oder einem Hotel aufstellen – und trotzdem lässt
sich nicht verhindern, dass jemand die Bank ausraubt oder im Hotel Amok
läuft. Immer findet sich eine Schwachstelle im System. Wenn man dagegen
über private Erfahrungen spricht, versucht man sich auch einer
Systematisierung zu entziehen. Auch wenn – wie im Fall der Prostituierten
– das gesamte System darauf beruht, dass sich die Frauen den Spielregeln
unterordnen. Ich versuche, selbst zum Objekt zu werden, um dadurch näher
an das Geschehen heranzukommen. Es gibt eine Zeile in einem Lied von
Billie Holiday, in welchem sie singt: ‹I wanna be the spoon in your
coffee, I’ll never let you free, if you go to china, I’ll go to china
too›. Das trifft auch für meine Einstellung zu, mit der ich mich mit
Themen auseinandersetze. HF: Im Verlauf der Arbeiten hast du die
Integration noch verstärkt: Erst wurde QM Teil des Alltags, jetzt sind es
die Prostituierten, deren Geschäfte in Normalität überführt werden? ASS:
Für mich ergibt sich daraus eine Art Superrealismus. Aber eigentlich
geschieht diese Integration mit einer Verzögerung nach der Bearbeitung des
Filmmaterials. Dafür kommt dem Betrachter die Situation in der
Installation wiederum sehr entgegen, durch die Aufteilung der Monitore,
durch das Zusammenspiel der einzelnen Stimmen baut er sich das Geschehen
in der eigenen Wahrnehmung als seine Wirklichkeit zusammen. Dieser Effekt
ist allerdings nicht kalkuliert, sondern er stellt sich erst ein, wenn die
Arbeit vor Ort aufgebaut wird. HF: Ist deine Vorgehensweise mit Aby
Warburgs Definition der Ethnografie als teilnehmender Beobachtung
vergleichbar? ASS: Ja, nur versuche ich, den Betrachter in diese Position
zu versetzen, während ich eben selbst Teil des Geschehens werde. Ich bin
kein Forscher, ich bin Künstler. Und es macht ja auch Spass, wenn man Teil
der eigenen Arbeit ist. HF: Gilt das auch für die Videos mit
Prostituierten bei ‹Warte mal!›? ASS: Schon bei dem Film mit den Trommlern
in São Paulo hätte ein ganz normaler Tourist die Kamera führen können.
Trotzdem schwingt im fertigen Video eine starke Körperlichkeit mit.
Offenbar wurde ich beim Filmen völlig absorbiert von der Situation, da
gibt es keine Distanz zum Geschehen. Bei der Arbeit in Tschechien war es
ähnlich: Was habe ich mit dem Ort und der Community zu tun? Ich bin
Schwedin, komme aus Stockholm und lebe ab und an in New York. Die
Aufforderung ‹Warte mal!› war, was die Mädchen vor dem Motel, in welchem
ich wohnte, den vorbeifahrenden Autos zuschrien, ob diese sie nun hörten
oder nicht. Ganze Nächte lang schrien sie: ‹Warte mal!›. Weil ich dies
immer wieder hörte, erhielt es plötzlich einen doppelten Sinn. Warte mal!
Was wird mit uns passieren, nachdem die Mauer gefallen ist. Mich hat es
fasziniert, wie diese jungen Frauen mit ihrem Leben umgehen. Einerseits
werden sie von den Zuhältern kontrolliert, gleichzeitig haben sie ihr
Auftreten und ihr Verhalten völlig unter Kontrolle. Mir war im ersten
Moment klar, dass ich dieses Zusammenspiel filmen wollte: die Frauen, die
Zuhälter, die Bars und ich mittendrin. Tatsächlich gab es den Moment, wo
eines der Mädchen mit meiner Kamera während einer Partynacht selbst filmen
wollte. HF: Aber reicht das, um sich mit der komplexen Abhängigkeit zu
identifizieren, wo Geld, Gewalt und der Körper als Ware eine zweifelhafte
Rolle spielen? ASS: Was soll ich sagen: Mein Galerist bekommt auch 50
Prozent (lacht). Aber im Ernst, Künstler beklagen sich sehr oft über die
Macht, die das Geld über ihre Arbeit hat. Hier wird jeder Missbrauch
dagegen sofort sichtbar. Die Abhängigkeiten sind körperlich spürbar. Was
in der Prostitution als Geschäft abgewickelt wird, geht auf die Gewalt
zurück, mit der Zuhälter die Frauen zum Sex zwingen. Damit braucht man
sich nicht zu identifizieren, es ist der Situation von vornherein
eingeschrieben: Es gibt 25 Millionen frustrierte Männer, für die Frauen
aus dem Ostblock herangeschafft werden. Unter diesem Druck müssen diese
Frauen über Jahre leben. Es geht um Angebote und Wünsche und ein grausames
Geschäft, dass sich in einer Gegend entwickelt hat, wo zwei Systeme
aufeinandertreffen – Ost und West. HF: Der Film sucht aber auch nach einer
Alternative zu diesen Formen der Macht. Du fragst in einem der Interviews
ja selbst, ob grössere Offenheit in den Beziehungen zu besseren
Geschlechterverhältnissen führen könnte. Da geht es doch nicht mehr um
Identifikation? ASS: Das stimmt. Trotzdem spielt sich in der Prostitution
an der deutsch-tschechischen Grenze etwas ganz Generelles ab, was man aus
anderen Gegenden kennt. Auch von Schweden aus fahren Leute nach Dänemark,
um sich zu betrinken und ihre Exzessivität auszuleben. Die Sexindustrie
ist ein extremer Ausdruck für gesellschaftliche Obsessionen, die schon
immer vorgegeben sind. Unser System ist darauf aufgebaut, dass es ein
Ventil für diese Wünsche gibt. Es ist eine Frage, wie du als
heranwachsender Mensch behandelt wirst, daraus ergeben sich deine eigenen
Verhaltensweisen. Und im Osten herrscht noch immer eine totale
Machogesellschaft, die sich in der Prostitution fortsetzt. Selbst die
Überwachung wiederholt sich im Verhältnis der Zuhälter zu den Nutten. Es
ist reine Ausbeutung und die Frauen wissen das. In meiner Installation
taucht alles im Material wieder auf, visuell geordnet zwar, aber ohne
Kommentar. In der Art, wie ich ‹Warte mal!› installiert habe, bekommt der
Betrachter das gleiche Dilemma zu spüren, in dem ich mich während der
Arbeiten befand. Der Besucher muss sich seinen Weg durch das Material
bahnen.
Aktuell: Bis zum 20.2. ist Ann-Sofi Sidén mit einer
Einzelausstellung in der South London Gallery, London, zu Gast. Zur
Ausstellung in der Secession in Wien (bis 16.1.) ist ein Katalog mit
Texten von Hans-Christian Dany und Andreas Spiegl
erschienen.
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