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Belvedere-Ausstellung

Vom Elend, Mensch sein zu müssen

05. Oktober 2011 17:38
  • Artikelbild: Detail aus "Stalingrad oder: Die Rentabilitätsberechnung eines 
Tyrannenmordes" (1964-67). - Foto: VBK/Zinkl
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    Detail aus "Stalingrad oder: Die Rentabilitätsberechnung eines Tyrannenmordes" (1964-67).

Lange nicht gezeigt, aber ungeheuer modern: Der politische Künstler Curt Stenvert (1920-1992) pochte in mehreren Manifesten auf eine "funktionelle Kunst"

Wien - Ein ausgestopfter Rabe hockt über einer kastrierten und geköpften Männerfigur voll grellroten Bluts. "Geliebter Mann! Teurer Vater!" setzt ein banger Frontbrief ein, der zu Füßen des mit Nazi-Abzeichen übersäten Gefallenen liegt. In der nächsten Vitrine frisst ein Zombie den Schädelinhalt eines Kameraden und auch die sechs anschließenden Konterfeis von Adolf Hitler tun sich an Gehirnbissen gütlich, bevor sich die Fratze zusehends in einen Wolf verwandelt.

Vollgestopfte Glaskästen, Textcollagen überall, die die Sätze zerstückeln wie die Militärmassaker die Körper: Curt Stenverts Hauptwerk Stalingrad - oder: Die Rentabilitätsberechnung eines Tyrannenmords sieht so aus, als hätte sich der für seine albtraumhaften Trash-Installationen bekannte Zeitgenosse Thomas Hirschhorn mit dem antifaschistischen Fotomonteur John Heartfield zusammengetan. Der zeitgemäße "Look" der exzessiven und dramaturgisch genauen Vitrinenarbeit frappiert.

Bei einer Gruppenschau in Paris 1967 kam das Werk gerade recht: Noch vor den Anti-Vietnam-Demos der Studenten lenkte Stenvert den Blick auf die Verheerungen des Krieges. Jahrzehnte nach der letzten Werkschau rückt jetzt die Belvedere-Ausstellung Curt Stenvert. NeoDadaPop den politischen Künstler ins Zentrum, und sie tut gut daran. Stenvert pochte in mehreren Manifesten auf eine "funktionelle Kunst", deren Aufgabe die Gesellschaftskritik sein sollte.

Der 1920 in Wien als Kurt Steinwendner Geborene schrieb sich noch als Soldat an der Akademie der bildenden Künste ein. Der Schüler von Gütersloh und Wotruba war als junges Art-Club-Mitglied mit internationalen Strömungen bestens vertraut und stellte sogar früh mit Picasso und Calder in Basel aus. Die jetzige Ausstellung setzt 1947 mit den Entwürfen zu Stenverts erfolgreicher Skulptur Violinspieler in vier Bewegungsphasen ein. Die heute verschollene Plastik stand der Maschinenästhetik von Marcel Duchamps Großem Glas nahe.

Die Darstellung von Bewegung fesselte Stenvert so sehr, dass sie ihn schließlich in ein mobileres Medium wechseln ließ. Nach zahlreichen Jobs beim Film realisierte er 1951 seinen experimentellen Erstling Der Rabe nach Poe - der erste heimische Avantgardefilm. Den surrealistisch inspirierten Kurzfilm bringt die Ausstellung mit Puppenfotos von Hans Bellmer zusammen.

Beiden Künstlern galt die Puppe als Metapher für das menschliche Dasein. Im Gegensatz zu seinem Vorreiter thematisierte Stenvert aber die domestizierte und sexuell ausgebeutete Rolle der Frau. So wird etwa in der 1968 entstandenen Assemblage Mensch sein müssen & Schiffbrüchiger im All ein weiblicher Perückenkopf als Kosmonautin von einem überlangen Staubsaugerschlauch umschlossen. An den Vernichtungskrieg mahnt die Holzbox Die 21. menschliche Situation: Als junge Frau zu Seife verkocht werden. Explizit wie nur wenige deutschsprachige Künstler bezog sich Stenvert, seit 1938 mit einer Jüdin verheiratet, auf den Holocaust.

Zehn Jahre nach seinem im Ausland mehr als hierzulande geschätzten neorealistischen Spielfilm Flucht ins Schilf 1952 kehrte Stenvert als "Objektkünstler" zur Skulptur zurück. Etliche schwarzhumorige Boxen- und Vitrinenarbeiten könnten heute als Werke der Young British Artists durchgehen. Im Gegensatz zu Flirts mit dem Desaster, etwa von Jake & Dinos Chapman, standen für den Wiener aber stets die bitteren Inhalte im Vordergrund, nicht die provokante Geste.   (Nicole Scheyerer/ DER STANDARD, Printausgabe, 6.10.2011)

  • Ausstellung im Belvedere bis 15. 1.
  • Curt-Stenvert-Retrospektive im Filmarchiv Austria, 4. 11. bis 23. 12.

 

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