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Dead Bull verleiht Flügel
KUNST  Für die Nase ist das Orgien-Mysterien-Theater des Wiener Aktionisten Hermann Nitsch in Prinzendorf der Tiefpunkt des Festivalsommers, für Augen und Ohren ein Höhepunkt. Eine Reportage. MATTHIAS DUSINI

Falter 32   Originaltext aus Falter 32/04 vom 04.08.2004

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Am letzten Samstag, 16.15 Uhr, wurde Lionel Röhrscheid im Hof von Schloss Prinzendorf gekreuzigt. Der weiß gekleidete Peinigungsdienst legt den nackten Mann auf das Holzkreuz, bindet die Hände auf den Querbalken, verbindet die Augen. Beim Heben des Kreuzes kann Lionel den Druck des Körpers mit den Füßen abfangen, die auf einem kleinen Brett stehen; die Belastung der Arme bleibt so erträglich. Mehrere Weißhemden tragen den Gekreuzigten nun zur Stirnseite des großen, barocken Schlosshofes, der von Wirtschaftsgebäuden begrenzt wird. Dort hängt schon der kurz vorher angelieferte, von einem Metzger vor Ort gehäutete und ausgenommene und mit einem Flaschenzug in die Höhe gezogene Stier, das XL-Exemplar der zahlreichen an diesem Tag bereits traktierten Tierkadaver.
Ein schriller Pfeifton ertönt, Röhrscheid wird mit dem Kreuz an den Stier gelehnt. Der Geruch von Blut und Innereien ist an dem heißen Sommertag ganz schön streng, schlimmer riecht nur die in der Sonne stehende Biotonne. Und ekliger war nur der deutsche Sänger Gunter Gabriel, der in der Doku-Soap "Die Alm" neulich einen Kuheuter häuten, kochen und essen musste. Gabriel: "Schmeckt wie Schuhsohle." Röhrscheid indes erwartet sich von seiner ersten Kreuzigung Erhabeneres: "Ich erhoffe mir, eine ungelebte Angst zu durchleben und mich dabei von ihr zu befreien." Mit einem Geburtserlebnis habe das schon zu tun. "Nicht umsonst trägt man hier am Gelenk ein Plastikband wie ein Neugeborener", fügt er ironisch hinzu.
Die von zahlreichen im Hof verteilten Musikern erzeugte Klangkulisse schwillt an, ein lauter Gongschlag ertönt, dann wird dem Modell das Blut des toten Stiers in die Mundhöhle gegossen. Röhrscheid schluckt es nicht, sondern lässt es über das Kinn runterrinnen, bis es von seiner Penisspitze zu Boden tröpfelt. Diverse Kung-Fu-Film-Gongschläge und Trillerpfiffe später entsteht eine Szene, die einen glauben lassen könnte, das Passionsspiel verwandelte sich in eine kannibalistische Grillparty: Nach und nach schleppen Männer maibaumgroße Stangen heran, an denen vorne Schwerter befestigt sind; kommandiert von einem Trillerpfeifenbesitzer, der auch ob seiner weißen Kleidung an einen Bademeister erinnert, versuchen sie sich im Takt fortzubewegen - wie die freiwillige Feuerwehr bei einer Löschübung. "Wir sind ja hier nicht am Campingplatz", mahnt einer der Kommandanten zu mehr Disziplin.
Oh Schreck, was tun sie da? Sie nähern sich aus verschiedenen Richtungen dem Mann am Kreuz, unter viel Tschindarassabumm berühren sie mit der Schwertspitze Hände und Füße. Es sind jene Punkte, an denen, wie jedes Christenkind weiß, Jesus Christus ans Kreuz geschlagen wurde. Aber keine Angst! Das Modell wird nicht verletzt; eine Woche hat man dafür geprobt, da kann nichts passieren. Mann auf Kreuz vor Stier, vor ihm vier lange Spieße: Dieses Bild bleibt einige Momente lang unverändert, Foto- und Filmkameras verrichten ihre dokumentarische Arbeit, der nächste Leidensloop beginnt. Die weißen Stoffturnschuhe einiger Weißgardisten sind inzwischen rot.
Mehr Blut fließt, wenn einem Modell ein ausgenommenes Schwein auf den Bauch gebunden wird und die Innereien anschließend wieder zurück hineingestopft werden. Da sind dann vier, fünf Leute am Werk, die heftig herumwühlen, das abgezapfte Blut darübergießen und so das simulieren, was der Künstler unter einem ins Künstlerische gewendeten Triebdurchbruch versteht. "Ich möchte Intensität erzeugen. Grausamkeit wird ersetzt durch große Erlebnisse." Für Veronika, sein Lieblingsmodell, ist es eine schönes Erlebnis, getragen zu werden. "Man kann sich darauf verlassen, dass einem nichts passiert." Die Woche Probezeit habe ein Gemeinschaftsgefühl erzeugt. Auch das Tier, das auf ihr liegt - das Gewicht wird durch Holzleisten abgefangen -, empfindet sie nicht als widerlichen Fremdkörper. "Man empfindet bei der Aktion ein erotisches Gefühl, aber nicht nur." Wie bei einer Technoparty könnte man meinen, aber Veronika hat andere Assoziationen: "Beethoven hören, Rembrandt betrachten ..."
Viel mehr ist eigentlich nicht passiert beim 2-Tages-Spiel des 65-jährigen Aktionisten Hermann Nitsch am vergangenen Wochenende im niederösterreichischen Prinzendorf, wo Nitschs mittlerweile verstorbene Frau Beate Anfang der Siebzigerjahre das Schloss erworben hatte. Keine Tierschützer, keine Polizei, keine Zeitungspolemiken, keine rechten Hasstiraden stören diesmal das zwecks Kunsterzeugung inszenierte Schlachtfest. "Dass es diesmal keine Schlachtung gibt, ist ein echter Verlust", bemerkt ein deutscher Banker, der zu vergangenen Aktionen mit seinen Kindern angereist war. "Es ist schon ganz gut, wenn man als Stadtkind mal sieht, wie so ein Tier geschlachtet wird. Vielleicht überlegt man sich dann einmal, wie viele Tiere leiden müssen, damit wir unseren Braten auf den Tisch bekommen." Überraschend wenige Sinnsucher - etwa fünfzig - haben die 250 Euro Eintritt fürs Orgien-Mysterien-Theater 2004 gezahlt - all inclusive.
In der nach und nach renovierten Anlage wohnt und arbeitet der Wiener Aktionist Nitsch mit seiner Frau Rita. Hunde, Hühner, Pfauen und Gänse bevölkern den Hof. Das Schloss ist umgeben von den großen Kornfeldern des nördlichen Weinviertels, gigantische Windräder ragen in das Barockambiente, nicht weit entfernt pumpen kleine Förderanlagen Erdöl nach oben. Im Garten vor dem Burggraben stehen zehn große Rote-Kreuz-Zelte, wo an die hundert Modelle des Marquis de Sang untergebracht sind. Vor sechs Jahren fand hier der Höhepunkt von Nitschs Arbeit am Gesamtkunstwerk statt, das Sechstagespiel des Orgien-Mysterien-Theaters (OM-Theater). So nennt Nitsch seit Anfang der Siebzigerjahre die Mischung aus Konzert, Theater, Performance, Weinverkostung, Selbsterfahrungsseminar und Malaktion. Da solche Aufführungen kostspielig sind und Nitsch ohne öffentliche Gelder arbeitet, dauerte es nun eine Weile, bis das Budget für eine neue, wenn auch kleinere Aufführung da war.

Während sich Nitsch bisher mit Mythen der Antike beschäftigte, mit dem christlichen Leidensmann Jesus oder mit Dionysos, dem Gott der Grenzüberschreiter, ist nun der mittelalterliche Parzival-Stoff an der Reihe. Eigentlich führte Nitsch Gespräche mit der Wiener Staatsoper, wo er gerne bei der Neuinszenierung von Richard Wagners Oper "Parzifal" mitgewirkt hätte. Im Gegensatz zu seinem Kollegen Christoph Schlingensief, dessen Inszenierung derzeit in Bayreuth zu sehen ist, hatte Nitsch wenig Glück bei der Zusammenarbeit mit einem Opernhaus. Im großzügig dimensionierten Prinzendorfer Eigenheim bringt er dafür nun seine Textexegese unter die aufnahmewillige Zuhörerschaft. Einfach zu verstehen ist das allerdings nicht. Wehe dem, der in den Texten des Meisters nach Erklärungen sucht.
Nitsch vergleicht die Seitenwunde von Jesus, die ein römischer Soldat jenem zufügte, mit der Wunde von König Amfortas. Amfortas passt im Parzival-Epos auf den Gral auf, unter anderem als Schüssel gedeutet, mit dem das Blut Jesu aufgefangen worden sein soll und das daher magische Kräfte besitzt. Durch sein Leiden am Kreuz erlöst Jesus die sündige Menschheit. Das Kreuz macht ihn zum Erlöser, zum "opfer für die blutschuld des daseins, er ist das blutopfer, das lamm, das die sünden der welt auf sich nimmt". Und Amfortas? Der leidet an einer Wunde, die immer wieder aufbricht. Er ist schuldig geworden, weil er mit einem "wunderschönen weib" (Nitsch) geschlafen hat, wo er doch auf den Gral aufpassen sollte. Oder so. Die Trauben der Erkenntnisse Nitschs hängen hoch. Beruhigend, dass ein englischer Mitarbeiter am Tag vor der Aufführung noch immer glaubt, Amfortas sei der Holztrog (vielleicht: Amphore), den er herumschleppen muss, weil sich darin ein Gekreuzigter mit einem Schwein befindet.
Für den einfachen Nitsch-Soldaten Lionel Röhrscheid hat der Tag schon vor Mitternacht begonnen. "Guten Morgen, 11.30 Uhr, bitte aufstehen", skandieren die Blutbademeister in der Zeltstadt. Fackelträger versammeln sich im Hof. Das Vorspiel beginnt. Das ist auch der Arbeitsbeginn für den externen Wachdienst, dessen Aufgabe weniger darin besteht, über die Mauern kletternde Schwarzseher abzufangen, als vielmehr darin, gnadenlos alle unerlaubterweise geschossenen Fotos zu zerstören. Selbst Handys mit Fotofunktion werden beschlagnahmt. Einer Besucherin wird der Film aus dem Apparat gezogen: "Aber mein Mann ist Amfortas!", ruft sie verzweifelt. Nur an den Filmemacher Peter Kubelka, der sich nach Mitternacht im Hof eingefunden hat, trauen sich die Security-Männer nicht heran. Der filmt mit einer kleinen Kamera die inoffiziellen Stars des Spektakels: eine Schar von Gänsen, die in ihrem weißen Gefieder die komischen Doubles der Darsteller geben - würdevoll, neugierig, aber distanziert folgen sie dem Geschehen, legen ihre langen Hälse in den Rasen, wenn nichts passiert. Sie werden das an diesem Wochende noch sehr oft tun.
Um 5.30 Uhr geht die Sonne auf, die Teilnehmer umarmen und küssen sich, wie es in der Partitur steht. Es erinnert weniger an eine Sekte als eine Sportmannschaft, die sich vor einem schweren Spiel Mut macht. Von Beginn an ist aber auch die Rollenverteilung klar: Wie in einem konventionellen Theaterraum sind Akteure und Publikum strikt voneinander getrennt. Die einen agieren, die anderen konsumieren - meist mit einem Becher oder einem Teller in der Hand. Das hat den Vorteil, dass sich der Besucher weder die Hände schmutzig machen noch vor dem Frühstück fremde Menschen küssen muss. Nur in der Gruppendynamik der Akteure ist der Corpsgeist der Sixties-Utopien noch spürbar und löst mitunter unangenehme Lagerbeklemmungen aus. Die Pfeifen, das drei Meter hohe Podest des Dirigenten, die Megafone, die Uniformen, die männlich dominierte Führung, der Wachdienst und die strikte Hierarchie zwischen dem Oberbefehlshabenden, den Subcommandantes, den aktiven und passiven Akteuren: Das erinnert daran, dass die Generäle bereitstehen, wo die Freiheit ausgerufen wird.
Am Samstagvormittag um zehn Uhr ist der offizielle Beginn der Kunstaktion. Formvollendet erscheint nun auch der rotwangige Künstler selbst: schwarze Jean, schwarzes Hemd, schwarze Hosenträger, schwarzes Käppi, Pfeife. Glaubhaft verkörpert diese Kugel mit Bart das exzessive Fressen und Saufen - das große Ficken ist bekanntlich die Domäne seines Aktionistenkollegen Otto Muehl. Nach Auftritten der Speerträger, einer nicht enden wollenden Fußwaschung, an der sich der Kunstpapst selbst nicht beteiligt, beginnt dann auch die Kreuzigungsarbeit. "Fragts ned so viel. Machts weiter!", ruft Nitsch den Beteiligten zu, die sich nach dem Wohlbefinden ihres von einem Schweinekadaver bedeckten Kollegen erkundigen. "Es is no niemand g'storben dabei!" Eine Tirolerin ruft einer Gruppe von Wartenden zu: "Die passiven Models sollen sich die Schwänze mit Sonnencreme eincremen. Nach einer Stunde in der Sunn hascht nämlich schunscht an gewaltigen Brand." Als Nitsch später einige Modelle erwischt, wie sie sich die Gesichter einschmieren, fährt er sie an: "Warum machts denn des?! Sonnencreme ist strengstens verboten. Da hält das Blut nicht!"

Solche Situationen der Orgien-Mysterien-Routine liefern den eigentlichen Unterhaltungswert für die Zaungäste, die erfreulicherweise nicht durch Absperrungen im Zaum gehalten werden. Man sieht Putzfrauen, die den Blutspuren im Schloss hinterherwischen. Plötzlich taucht ein Lastenauto mit dem Stier auf. Die Schwerter auf den Speeren sind kitschige Fantasygeräte, die etwa "Excalibur" heißen. Besonders lustig sind die Szenen, in denen nach der Blutpanscherei dann die besudelten Gewänder auf Kreuzen ins Atelier getragen werden, wie Brotleiber, die aus dem Ofen kommen. Erst dann ist die Verwandlung von schnöder Materie in heilige Kunst abgeschlossen. Eine Besucherin kann sich nicht einmal an diesen Absurditäten ergötzen: "Es kommt mir vor, als würde ich hinter einer Glaswand stehen. Diese Kunst hat ihre Radikalität verloren, es ist, als würde ich einem Klassiker zuschauen und nicht wissen, warum er zu einem solchen geworden ist."
Im Wettbewerb um Authentizität ist Nitschs performative Kunst ein Angebot unter vielen. Intensität versprechen Rockfestivals, Kurthermen, Nachtkletterkurse für Manager, vom Gesamtkunstwerk träumen Museumsplaner. Die Ähnlichkeit zwischen Schloss Prinzendorf und den Höfen des MQs verdankt sich nicht nur der barocken Kulisse, den Sonnendächern und dem strengen Hausherrn. Hier wie dort bewegen sich die Besucher auf einer Bühne - als Akteure einer ästhetischen Inszenierung von Konsum. Die einen schauen den anderen dabei zu, wie diese komische Dinge tun. Die anderen konsumieren das Angebot eines aktionistischen Wochenendseminars, ein Stück Selbsterfahrung.
Abgesehen davon bleibt der Eindruck von einem Atelierbesuch. Andere Malerfürsten wie Georg Baselitz oder Markus Lüpertz haben ähnlich viele Mitarbeiter, nur ist die Arbeitsteiligkeit ihrer Produktion nicht so transparent. In Prinzendorf bekommt einen Eindruck davon, wie eine Manufaktur der globalen Kunstproduktion arbeitet. Es ist wohl die erstaunliche Leistung des Künstlers Hermann Nitsch, dass so viele Dinge, Themen und Menschen zusammenkommen, um etwas zu produzieren, was er auch alleine machen könnte: Bilder. Lionel Röhrscheid hat am Kreuz keine Wiedergeburt erlebt. "Es war eher meditativ." Immerhin.

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August 2004 © FALTER
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