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Artikel

6.2002

Liutaurus Psibiliskis :  Ein Gespräch mit dem Litauer Deimantas Narkevicius über Identitätskategorien, geopolitische Transformationszeiten und westöstliche Utopien.

Ohne Bemühen um politische Wirkung oder exotische Effekte

Ein Gespräch mit dem litauischen Künstler und Kurator Deimantas Narkevicius

  
links: Mindaugas Lukosaitis: Porträt von Deimantas Narkevicius, 25.2.2002, Zeichnung
rechts: Legend Coming True, 1999, Super-8-Film auf DVD, 68’. ‹Dieses lange erzählerische Werk basiert auf der Geschichte einer alten Frau, welche zu den wenigen Überlebenden des Vilnius Ghettos gehört. Mich hat ihre Sprechweise berührt. Sie spricht sehr schnell, energisch und vermischt sehr private und allgemein bekannte Ereignisse. In diesem Film habe ich eine statische Bildeinstellung benutzt, um die Aufmerksamkeit auf das Erzählerische zu bündeln, das als solches sehr filmisch ist. Wahrscheinlich kommt hier die Entwicklung des Dramas konzentrierter zum Ausdruck, als dies bei einer rein visuellen Umsetzung möglich wäre. (DN)›

Seit den späten neunziger Jahren, vor allem seit seiner Beteiligung an der ‹Manifesta 2› in Luxemburg ist Deimantas Narkevicius international bekannt. Damals zeigte er erstmals filmische Arbeiten. Dem Medium ist er bis heute treu geblieben. Seither hat er an den unterschiedlichsten Ausstellungsprojekten teilgenommen, unter anderen bei ‹Ausgeträumt..› in der Secession in Wien, ‹Re:songlines› in der Halle für Kunst in Lüneburg, ‹WonderWorld› im Kleinen Helmhaus Zürich und einer Einzelpräsentation im Litauischen Pavillion an der Biennale Venedig im vergangenen Jahr.

Die Arbeiten von Narkevicius kreisen in der Regel um bestimmte sozio-politische Situationen, welche durch individuelle Geschichten dargestellt werden. Er vertieft sich in die Erinnerung, betrachtet eine Vielzahl von Lebenserfahrungen, von kontextuell oder persönlich relevanten Details, knüpft an die Bildsprache der Vergangenheit an und übersetzt sie in die Gegenwart.

Die internationale Kunst der neunziger Jahre reflektierte mehr und mehr Bereiche, die über das Spielfeld des Kunstbetriebs hinausführen. Künstler aus unterschiedlichen Kulturkreisen haben dazu beigetragen, indem sie ihre Erfahrungen in eine visuelle Sprache umgesetzt haben, die überall verständlich ist. So betont auch Narkevicius, dass sein Hauptinteresse in Litauen nicht der bildenden Kunst, sondern den sie begleitenden sozialen Prozessen, Ereignissen des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts gilt. In seiner Arbeit verschmelzen darum auf fruchtbare Weise internationale Tendenzen mit einer sehr persönlichen Position.

Wenn man visuelle Arbeiten betrachtet, die um menschliche Schicksale und
soziale Gegebenheiten kreisen, kann man sich fragen, ob ein Kunstwerk mehr ist, als die Dokumentation der gezeigten Situation. Es gibt darauf keine eindimensionale Antwort, nachdem jede Präsentation eine Mischung von kalter Reflexion und subjektiven Positionen und Wünschen ist. In einem gewissen Sinne kann man sagen, dass die Arbeiten von Narkevicius dort angesiedelt sind, wo sich das Imaginäre und das Repräsentative kreuzen. Sie erzählen jedenfalls von den sichtbaren Dingen. Gleichzeitig ist auch die repräsentative Form, die wir als dokumentarisch bezeichnen, immer Teil der geistigen Plattform ihres Schöpfers.

Liutauras Psibilskis: Als Künstler funktionierst du in unterschiedlichen Kontexten. Du lebst und arbeitest in Vilnius und stellst international aus, meistens in Europa. In Vilnius arbeitest du auch als Kurator im Zentrum für Gegenwartskunst. Deshalb kann man sagen, dass deine Erfahrung aus mehreren Bereichen der Gegenwartskunst kommt. Führt die heute überall bemerkbare Integration verschiedener Kontexte zur Nivellierung? Wie erlebst du sie persönlich bei deiner Arbeit?

Deimantas Narkevicius: Uns in Litauen droht wirklich keine kulturelle Nivellierung, weil es einige spezifische Dinge gibt, die sich zumindest strukturell sehr langsam ändern. Ausserdem gibt es für eine kritische Mehrheit in Litauen noch immer eine grosse Sprachbarriere, die es nicht so leicht macht, sich strukturell zu integrieren. Trotzdem besteht eigentlich kein so grosser Unterschied zwischen den Kontexten mehr. Hin und wieder könnte der Eindruck entstehen, dass das Agieren in einem grösseren Umfeld, in diesem Fall dem europäischen Raum, eine Frage eines bestimmten professionellen Niveaus ist. Aber selbst das ist nicht unbedingt so.

LP: Aber denkst du, dass Identitätskategorien wie Osten und Westen immer noch einen Sinn haben?

DN: Die Diskussion dieser Frage stellt sich nicht in erster Linie im Kunstkontext, sondern ist eine politische Frage, die kulturelle Prozesse zweifellos beeinflusst. Ich würde sagen, dass es eine Entscheidung des Künstlers ist, ob er sich in seinem Schaffen auf die eine oder andere Weise für dieses Thema interessiert. Aber es ist ziemlich schwer, das Thema Identitätsdefinition zu umgehen, denn im früheren Westen findet sich ein grösseres theoretisches Potential, das mit der darstellenden Kunst im Austausch steht. Wir hier haben kein festes theoretisches Potential und können es vorerst nicht haben. Das Fehlen dieses akademisch-theoretischen Instrumentariums zur Bestimmung der Kunst Mitteleuropas ist ein Problem. Solange es nicht existiert, werden sich diese Identitätsfragen, ob
du das nun willst oder nicht, ständig stellen.

LP: Die meisten, die über dein Schaffen schreiben, betonen deine künstlerische Reflexion der kommunistischen Erfahrung Litauens. Dies zu Recht, da du dich mit allen deinen Filmen auf die Erfahrung des Ortes und ihre Auswirkung auf die Gegenwart beziehst. Entsprechend ist wohl auch die Reflexion der Filme von der Erfahrung des Betrachters abhängig: wie er sie liest und ob sich die Erfahrungen berühren können. Mich interessiert, wie sich die Interpretation deiner Werke von Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen voneinander unterscheiden und auf welcher Ebene sie sich berühren.

DN: Meine Filme basieren auf narrativer Information. Obwohl sie auch persönlich sind, bin ich bemüht, sie lesbar zu machen. Inwieweit der Informationsumfang lesbar ist, weiss ich nicht, aber meistens treffe ich Leute, die unabhängig von ihrer politischen Erfahrung meine Arbeiten recht interessant interpretieren. Auf Missinterpretationen bin ich noch nicht gestossen.

LP: Ich denke, dass deine Arbeiten, indem sie von konkreten Fällen erzählen, einen abstrakteren Sinn erhalten. Ich denke zum Beispiel an den Film ‹Energy Lithuania›, welcher die Überreste der kommunistischen Industriegesellschaft thematisiert. Als Zuschauer kannst du dabei die Existenz von Utopien in jeder Gesellschaft reflektieren.

DN: Seit ich 1990 zu reisen begonnen habe, bemerkte ich, dass es in Europa ungeachtet unterschiedlicher Systeme auch sehr viel Ähnliches gegeben hat. Obwohl die Lebensbedingungen unterschiedlich waren, gründeten auch andernorts die Gesellschaften auf Utopien. In den Strukturen ihres Entstehens waren sich die Visionen in vielen Fällen ähnlich, obwohl die Ziele vielleicht unterschiedlich waren. Das Phänomen des Bauens und Schaffens von Visionen gleicht sich in allen Kontexten, ob diese nun sozial, politisch oder wirtschaftlich sind. Dies ist der wichtigste Schlüssel für das Lesen meiner Arbeiten. Welche Ideen die Betrachter darin dann erblicken, ist hingegen eine individuelle Sache.

LP: Es ist nicht leicht zu erkennen, wie sich deine persönliche Position in den Reflexionen dieser gesellschaftlichen Prozesse widerspiegelt. Sollte sich deiner Meinung nach ein Künstler seiner eigenen Kommentare enthalten und sich keinen Ideologien anschliessen?

DN: Ich denke, dass eine gewisse Deideologisierung nicht nur für den Künstler wichtig ist, sondern auch für Europa insgesamt in dieser geopolitischen Transformationsperiode. Dieser Prozess war und ist eine Realität, durch ihn müssen die Leute hindurchgehen. Deideologisierung ist immer ein persönlicher Schritt, wenn massenhaft deideologisiert wird, ist es komplizierter. In Litauen haben viele Leute, die sogar gegen die kommunistische Ideologie opponiert haben, nach den Veränderungen von 1990 verstanden, dass sie auch ein Teil dieser Ideologie und dieses Systems gewesen sind. Die Deideologisierung oder Umwertung der eigenen Werteskala ist ein langsamer und schwieriger Prozess, denn die Veränderungen sind wirklich recht gross.

LP: In deinen Arbeiten ‹Legend Coming True› und ‹Energy Lithuania› betrachtest du gesellschaftliche Themen, die in der gegewärtigen litauischen Gesellschaft keine Stimme haben: Überbleibsel einerseits der jüdischen Gemeinschaft und andererseits der kommunistischen Industriegesellschaft. Verleihst du diesen Gruppierungen als Künstler eine Stimme?

DN: Eine Stimme verleihen, ist nicht meine wichtigste Aufgabe. Das sollte die Funktion eines anständigen Journalismus sein. Zu ‹Legend Coming True› kann ich ergänzen, dass die Diskussionen über den Holocaust in Litauen in den neunziger Jahren anfangs einfach schockierend waren. Mittlerweile haben sie zivilisiertere Gestalt angenommen.

Eine solche Situation in der Mitte der neunziger Jahre erschien mir ziemlich seltsam, und deshalb habe ich völlig neutral angefangen, Leute zu suchen, die im Ghetto gewesen sind, obwohl nur sehr wenige von ihnen in Litauen leben. Mich interessierte ihre Vision. Ich habe einige Leute getroffen, unter ihnen auch Fania, deren Erzählung wir in ‹Legend› hören. Mir hat ihr Charakter imponiert, ihre Erfahrungen und es stellte sich heraus, dass sie mit ihrem Leben die direkte Verkörperung einer Idee ist. Die Positionen von Fania wären wunderbares Material für einen Film.

LP: Deinen internationalen Durchbruch hattest du 1990, als marginale Kontexte vermehrt in den Fokus gerieten.

DN: Viele Künstler Osteuropas haben in ihren Kontexten dieselben Marginalien gesucht wie die post-westlichen Künstler in ihren Räumen, beispielsweise die sexuellen Minderheiten. Zugleich bedeutete hier Marginalität oder Anderssein meistens etwas anders. Die Industriegesellschaften, von denen ich im Film ‹Energy Lithuania› spreche, sind nicht in dem Sinne marginal, dass sie keine grosse Zahl von Menschen betreffen – auch wenn man bemerken kann, dass sie heute in Litauen keine wesentliche Rolle mehr spielen. Für einen Teil der Zuschauer ist es möglicherweise schwer zu verstehen, dass diese früher dominante Gruppe jetzt eine Marginalie in einem lokalen Kontext ist.
Für mich ist es wichtig hinzuzufügen, dass mich das Thema des Auftauchens seltsamer Phänomene beim Aufeinandertreffen zweier Ideologien oder Praktiken überhaupt nicht interessiert, wenngleich das in der Zeit der frühen postsowjetischen Kunst populär war. Meine Arbeiten sind ein Blick auf kulturelle Phänomene von innen, ohne das Bestreben, politische Wirkung oder kulturelle exotische Effekte hervorzurufen.




'Ich bin im sowjetischen Litauen aufgewachsen, habe dort die Schule besucht und meine Kunststudien begonnen. Es war ein sehr abgeschlossenes Land, genauso isoliert von Europa wie die ganze Sowjetunion. Kunst wurde staatlich kontrolliert und stark unterstützt durch die Regierung. Alternative künstlerische Positionen existierten nicht wirklich und es gab keine ernsthafte Opposition zur offiziellen Kunst. Für mich ist die Kunst dieser Epoche uninteressant. Der Alltag damals war jedoch abwechslungsreich und ereignisreich. Es kam zu wichtigen sozialen Änderungen. In den sechziger, siebziger und achtziger Jahren schritt die Industrialisierung der Gesellschaft in Litauen sehr schnell voran.

Mein Hauptinteresse gilt menschlichen Haltungen und Verhaltensweisen, die ich als ethische Positionen verstehe. Diese Positionen können meiner Meinung nach mit künstlerischen kreativen Prozessen verglichen werden. Die Helden meiner Filme taten etwas, vielleicht ein Leben lang, das man als künstlerisches Werk bezeichnen könnte, auch wenn sie diese Definition nicht anerkennen würden. Menschlicher Kreativität, die auch unter den schwierigsten Umständen erfahren werden kann, gilt mein zentrales Interesse.'




Filmvorführung von ‹Europe 54° 54’–25° 19’› und ‹Energy Lithuania› im Schnitt Raum, Köln am 29.5.

Internet-Version des von Hans-Ulrich Obrist kuratierten Projektes ‹Do It›. Der Beitrag von Deimantas Narkevicius wird im Juni aufgeschaltet.

Deimantas Narkevicius
*1964 in Utena, Litauen
1987–94 Litauisches Staatliches Kunstinstitut (jetzt Vilnius Academy of Arts)
1992 The Delfina Studios Trust, London,
Stipendium des Cultural Relations Department; The Foreign Office and The Elephant Trust
ab 1994 auch als Ausstellungskurator tätig für das Center of Contemporary Art, Vilnius
1995 Künstlerhaus Boswil, ARTEST Stipendium
1998 Jahresstipendium für junge Künstler, Litauisches Kulturministerium
2000–2001 Jahresstipendium, Litauisches Kulturministerium

Einzelausstellungen
1994 ‹Unforced Reality›, Gallery ‹Akademija›, Vilnius
2000 ‹8 x 16 x 35›, Contemporary Art Centre, Vilnius
2001 ‹Energy Lithuania›, Jan Mot Gallery, Brussels; 49th Biennale di Venezia, Lithuanian Pavilion; Ein Tag Film and Videos im Moderna Museet, Stockholm




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Ausgabe 6  2002
Autor/in Liutaurus Psibiliskis
Künstler/in Deimantes Narkevicius
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