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28.11.2002 19:11

Archäologe der Tötungslogik
Eine Werkschau von Heimrad Bäcker in Linz



Das Oberösterreichische Landesmuseum zeigt Blätter aus der "Nachschrift", frühe visuelle Poesie, Fotos und Fundstücke.




Wien - Ebenso wie Zeugnisse vorliegen, liegen sie brach. Unbemerkt, ungelesen sind sie wertlos. Sie zu lesen, allein ihre Masse zu sichten, kann als Aufgabe ein Leben füllen.

Zeugnisse sind potenziell überwältigend. Je länger ihre Anlage zurückliegt, desto unverständlicher wird, wovon sie künden, desto vernebelter erscheint ihre Intention, desto verschlüsselter wird ihr "Geheimnis". Es droht unterzugehen in der Faszination für eine fremd erscheinende Welt, es wird verstellt von den Absichten der späten Leser, es wird verdreht durch den Maßstab einer anderen Moral, eines unterschiedlichen Weltbildes. Kurz: Der Verlust von Distanz verklärt Inhalte, Moral wiederum steht einer Klärung im Weg.

Jede Zuweisung von Schuld, jede wertende Prüfung an den näheren Umständen der Gegenwart des Lesers verfehlt seinen Gehalt. Die Gefahr, die vom Material ausgeht, ist die, es als Vorwurf zu begreifen und entsprechend falsch darauf zu reagieren: sich rechtfertigend, urteilend, ablehnend. Bequem - also beifügend oder zurückweisend.

Heimrad Bäcker hat sich jeder Beifügung, hat sich jedes Kommentars enthalten, hat Hunderttausende Seiten an Material, das die Nazis anlegten, um ihre Ordnung zu errichten und abzuwickeln, aus der Distanz gelesen. Er hat dessen Struktur freigelegt, es konkretisiert. Mit Nachschrift I und II das Gerüst der Tötungslogik freigelegt. Allein durch Reduktion, durch Wiederholung, durch Montage, durch serielle Mittel. Allein dadurch, zu zitieren.

Bäcker hat aus Verwaltungssprache Literatur abgeleitet, Poesie die mit ungemeiner Wucht, die unmittelbar ihr Rohmaterial und die gründenden Gedanken zu dessen Anlage bloßstellt, die perfide Mechanik der Verharmlosung freilegt, anschaulich macht.

"Es liegen Schriftzeugnisse vor, die Form freigeben: des Buchstabens, der Ziffer, der Lautverbindung, der Satzkürzel, der Zeilenlänge, Zeilenanordnung, der Additionszeichen, der Anmerkung a), b), c), der hochgestellten Ziffer 3, der Verdopplung des Gleichen innerhalb eines deutsch und polnisch abgesetzten Plakattextes, der ansteigenden Zahl von Transportzügen, der abnehmenden Zahl der Lebenden, noch nicht Getöteten, der Wiederholungszeichen, je eines für einen Getöteten, der sich wiederholenden Zeitangabe für je ein zu Tode gekommenes Leben, der Punkte eins bis vier, nach denen ein Urteil erfolgt, Appendix der Geschichte."

Fotos, Fundstücke

Als erstes Museum widmet die Landesgalerie am Oberösterreichischen Landesmuseum Heimrad Bäckers jahrzehntelanger Bezugnahme auf die Menschenvernichtung der Nationalsozialisten eine umfassende Ausstellung. Blätter aus der Nachschrift, konkrete Dichtungen, Beispiele seiner frühen visuellen Poesie, Schwarz-weiß-Fotografien und Fundstücke aus dem Lager Mauthausen zeigen die ungeheure Präzision, mit der Bäcker Muster visualisiert, welche Kraft seine methodische Reflexion entfaltet und dabei die den Dokumenten zugrunde liegende Ideologie von innen her aufbricht.

Gerade die Möglichkeit zur Zusammenschau im Landesmuseum zeigt: Jeglichen Versuch der Kategorisierung von Bäckers Methodik als "experimentell" und die damit unterschwellig angedeutete Abdrängung in ein elitäres Eck ist falsch. Bäckers "Poesie" ist ungemein klar. Die Ausstellung unmittelbar verständlich. Raumtexte, Biografisches, das wunderbar gemachte Videoporträt Heimrad Bäckers von Isabelle Muhr, sind im besten Sinn Sekundärmaterialien. Heimrad Bäckers Werk gehört weit jenseits aller Grenzen zwischen den Medien und Kunstgattungen zum Klarsten und Spannendsten, was an Analyse, was an künstlerisch archäologischer Arbeit geleistet wurde. Es erhellt, ohne das Freigelegte durch Einschübe persönlicher Eitelkeit sofort wieder zu verstellen. (DER STANDARD, Printausgabe, 29.11.2002)


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