kunst „Ja, ich bin Romantiker“ Roger M. Buergel, Leiter der Documenta 12, über seinen Hang
zum 19. Jahrhundert, die Liebe zur Malerei und neue Formen der
Kapitalismuskritik DIE ZEIT: Herr Buergel, darf ich Sie beglückwünschen, oder
muss ich Sie bedauern? Roger M. BUERGEL: Beglückwünschen natürlich. Warum fragen
Sie? ZEIT: Weil ich nicht weiß, ob wir Großausstellungen wie die
Documenta überhaupt noch brauchen. Das sind doch oft nur noch inhaltsleere
Materialschlachten, so wie die letzte Biennale in Venedig. BUERGEL: Sie haben Recht. Viele dieser Ausstellungen wirken
wahllos. Ich bin gar nicht erst nach Venedig gefahren, da bleibe ich eh nur in
den Kirchen oder in der Accademia hängen. Mir missfällt einfach der
überkandidelte Auftrieb, bei dem es allein darum geht, den aktuellen Stand der
Kunst zu ermitteln. ZEIT: Eben darum ging es bei der Documenta doch bislang auch
immer… BUERGEL: Mir wäre das zu vordergründig. Die Documenta ist ja
ein Museum für 100 Tage, und in diesem Museum möchte ich die Moderne zeigen, die
Moderne seit 1789. ZEIT: Auch Bilder im Goldrahmen? BUERGEL: Das kann ich mir durchaus vorstellen. Vor ein paar
Wochen erst war ich lange im Louvre. Man kann da beobachten, dass es schon vor
dem ersten Industrialisierungsschub so etwas wie künstlerische Ich-AGs gab.
Einer wie Jacques-Louis David entwickelte nach 1789 eine unglaubliche Effizienz,
seine Bildhintergründe wurden nur noch zugestrichelt, weil er für Details keine
Zeit mehr hatte. Das Revolutionäre übersetzte sich in skizzenhafte Bilder des
neuen Bürgertums. Vergleichbares lässt sich entdecken, wenn man heute die
Entwicklung der Mittelschicht sieht, die lyrischen Performances eines Kyril
Preobrazhensky oder Installationen von Alice Creischer. ZEIT: Hört sich an, als sollte die Documenta historisiert
werden. BUERGEL: Natürlich werde ich überwiegend zeitgenössische
Kunst zeigen, doch mit historischer Tiefe. Viele unserer Museen wollen und
können sich solche Vertiefung nicht mehr leisten. Es zählt nur noch die
Besucherquote, und die Forschung wird ausgedünnt, was ein Verhängnis ist. Die
Documenta 12 wird diese fatale Logik des Spektakels unterlaufen. ZEIT: Erwartet uns also karge Kunstkost? BUERGEL: Überhaupt nicht. Doch werde ich keine voll
gestopfte, unverdauliche Ausstellung machen. Warum soll zum Beispiel im
Fridricianum nicht mal ein Saal leer stehen? Die Kunst braucht Raum und der
Besucher auch, sonst bleibt von der Documenta am Ende nur ein dumpfes Rauschen.
Viele Kuratoren nehmen die Besucher nicht wirklich ernst, sie halten Sitzbänke
für überflüssig, sie muten den Leuten zehnstündige Filme zu und muffige
Videokammern. Für mich sind das kuratorische Katastrophen. Man muss darauf
achten, dass sich die Kunstwerke nicht überstrahlen. Und dass am Ende die Leute
Lust haben, sich der Ausstellung hinzugeben. Das gilt übrigens auch für den
Katalog. Ich möchte wissen, wer die üblichen Monsterformate eigentlich liest.
Diese Art von Aufblähung will ich nicht mitmachen. ZEIT: Wird die Documenta also schrumpfen? BUERGEL: Sie wird leichter lesbar sein, doch werden wir ganz
bewusst die Zahl der Ausstellungsorte erhöhen. Neben dem Fridricianum und der
Documenta-Halle wird es mindestens drei neue Räume geben, schon damit die Stadt
stärker eingebunden ist. Warum soll man mit der Ausstellung nicht mal in ein
Einkaufszentrum gehen? Das wäre doch ein idealer Standort für
Kapitalismuskritik. ZEIT: Kapitalismuskritik? BUERGEL: Ja, das wird eines der Leitthemen der Documenta 12.
Man muss zum Beispiel darüber nachdenken, wie sich die Welthandelsorganisation
radikal demokratisieren lässt, wie man globalbürgerliche Interessen artikulieren
kann, außerhalb des parlamentarischen Systems. Und was heißt es, wenn sich nach
dem Staatskommunismus nun der Wohlfahrtsstaat auflöst? Für solches Nachdenken
könnte die Documenta eine Plattform bieten. ZEIT: Und was hat das mit Kunst zu tun? BUERGEL: Gewiss, man muss sehr aufpassen, Künstler nicht zu
missbrauchen. Die Kunst ist keine Reparaturwerkstatt der Gesellschaft.
Politische Konflikte müssen auch politisch gelöst werden. Dennoch kann Kunst
jene Kräfte unterstützen, die sich dafür interessieren, die Gesellschaft anders
zu denken. Sie eröffnet Gegenräume, in denen wir das, was uns sonst als
Unabänderliches widerfährt, in Ruhe betrachten können. Zudem kann die Documenta
helfen, neue Formen des Dialogs zu finden. ZEIT: Auch die Documenta 10 und 11 waren sehr politisch, mit
der Folge, dass der ästhetische Eigensinn kaum noch zu erkennen war. BUERGEL: Da brauchen Sie keine Angst zu haben. Meine Frau
Ruth Noack und ich haben schon viele Ausstellungen zusammen gemacht, und immer
wollten wir schöne Ausstellungen. Auch die Documenta 12 wird schön werden. ZEIT: Ist Schönheit nicht ein Unwort in der
Gegenwartskunst? BUERGEL: Kommt drauf an, was man darunter versteht. Für mich
ist sie die Erfahrung, an der Bewegung der Welt teilzuhaben. Und diese Erfahrung
mache ich, wenn mir etwas begegnet, das ich nicht einfach einordnen und
verstehen kann. Wenn mein konventionelles Herangehen an die Welt scheitert. ZEIT: Warum so negativ? Kann man sich nicht einfach an der
Kunst erfreuen? BUERGEL: Das kann man auch. Ich habe nichts gegen Kunst, die
einen tröstet. Sogar gegen Regression habe ich nichts. Wenn aber Regression das
Einzige ist, dann wird’s doch etwas langweilig. Deshalb würde ich gern beides zu
vereinen suchen, die Erbauung und die Aufklärung, die Anschauung und den
Begriff. Ich oute mich als Romantiker im progressiven Sinn von Romantik. ZEIT: Woher rührt die Lust an der Romantik? BUERGEL: Ich bin ein Kind des deutschen Bildungsbürgertums.
Meine Mutter und mein Vater haben mich schon früh in sämtliche Museen und
Kirchen Europas geschleppt. Das empfand ich damals als quälend, aber offenbar
ist etwas hängen geblieben. In der Pubertät war es dann die Malerei, die mich
gerettet hat. Und nach dem Abitur habe ich tatsächlich die Aufnahmeprüfung an
der Akademie für bildende Künste in Wien bestanden. Ich war begeistert von der
Theorie, zugleich aber kam mein Lehrer Johannes Gachnang immer mit Originalen,
mit Baselitz-Zeichnungen etwa. Da habe ich alles gelernt: das persönliche
Herangehen und die Liebe zu den Dingen, das Vertrauen auf sie. ZEIT: Malen Sie heute noch? BUERGEL: Es fehlt mir leider an Zeit. Ich lehre an den
Hochschulen in Lüneburg und Lyon und bin öfter in Berkeley, um zu forschen. ZEIT: Das heißt, Sie verbringen nicht jeden Abend auf einer
Vernissage. BUERGEL: Nein, ich bin kein Szenegänger. Mir sind
Atelierbesuche ohnehin wichtiger als Ausstellungen. Außerdem brauche ich Zeit
für meine Familie, meine zwei Kinder und will auch mit meinen Freunden Spaß
haben. Das ist ja eine große Gefahr bei Kuratoren, dass man zum Manager wird und
seine Strümpfe nur noch am Flughafen kauft. Man vernachlässigt seine Entwicklung
als Intellektueller und folgt irgendwann nur noch Moden. ZEIT: Die Mode interessiert Sie nicht? BUERGEL: Schon, aber ich bin ihr nicht ergeben. Dass etwa
Video zu einer Art Leitwährung der Kunst geworden ist, halte ich wirklich für
idiotisch. Heute filmt ja jeder, egal, ob er Maler, Bildhauer oder Fotograf ist.
Darunter leidet aber die ästhetische und die handwerkliche Qualität – und auf
die kommt’s an. ZEIT: Was ist denn Qualität? BUERGEL: Das lässt sich im luftleeren Raum schwer erklären,
da muss man sich über einzelne Kunstwerke intensiv unterhalten. Und genau das
begreife ich als Aufgabe des Kurators. Am Anfang einer Ausstellung steht für
mich zwar die Theorie, ich schreibe ein Konzept, in dem ich meine Beobachtungen
der Kunst auf den Begriff bringe. Dann aber, in der Auseinandersetzung mit den
Künstlern, lösen sich die Konzeptideen auf, so wie Zucchini im Risotto. Sie sind
noch drin, aber nicht mehr zu erkennen. In diesem Sinne ist ein Kunstwerk von
hoher Qualität, wenn es vieles in sich aufhebt, ohne dass es gleich erkennbar
ist. ZEIT: Sind Sie als Kurator also der Chefkoch? BUERGEL: Nein, ich halte nichts von autoritären Gesten. Und
die genialische Rolle eines Harald Szeemann ist mir suspekt. Ich verstehe mich
eher als Réalisateur, als jemand, der Möglichkeitsräume öffnet und Macht
verteilt. ZEIT: Machen Sie sich damit nicht überflüssig? Am Ende
entscheiden die Künstler alles selbst. BUERGEL: Wäre ja auch nicht schlecht. Doch meine Erfahrung
ist eine andere. Viele Künstler brauchen Widerspruch, Reibung und den
Machtkampf. Die meisten Kuratoren führen solche Kämpfe nicht, sie wollen nur mit
den Künstlern kuscheln. Heraus kommt dann irgendein affirmativer Quark. ZEIT: Für solche Auseinandersetzungen braucht es viel Zeit.
Gibt es die überhaupt bei einer Großausstellung wie der Documenta? BUERGEL: Vielleicht lade ich ja nur wenige Künstler ein, wer
weiß. Außerdem habe ich vier Jahre Zeit. Da passt eine Menge Streit hinein. Die Fragen stellte Hanno Rauterberg