DIE ZEIT


51/2003

kunst

„Ja, ich bin Romantiker“

Roger M. Buergel, Leiter der Documenta 12, über seinen Hang zum 19. Jahrhundert, die Liebe zur Malerei und neue Formen der Kapitalismuskritik

DIE ZEIT: Herr Buergel, darf ich Sie beglückwünschen, oder muss ich Sie bedauern?

Roger M. BUERGEL: Beglückwünschen natürlich. Warum fragen Sie?

ZEIT: Weil ich nicht weiß, ob wir Großausstellungen wie die Documenta überhaupt noch brauchen. Das sind doch oft nur noch inhaltsleere Materialschlachten, so wie die letzte Biennale in Venedig.

BUERGEL: Sie haben Recht. Viele dieser Ausstellungen wirken wahllos. Ich bin gar nicht erst nach Venedig gefahren, da bleibe ich eh nur in den Kirchen oder in der Accademia hängen. Mir missfällt einfach der überkandidelte Auftrieb, bei dem es allein darum geht, den aktuellen Stand der Kunst zu ermitteln.

ZEIT: Eben darum ging es bei der Documenta doch bislang auch immer…

BUERGEL: Mir wäre das zu vordergründig. Die Documenta ist ja ein Museum für 100 Tage, und in diesem Museum möchte ich die Moderne zeigen, die Moderne seit 1789.

ZEIT: Auch Bilder im Goldrahmen?

BUERGEL: Das kann ich mir durchaus vorstellen. Vor ein paar Wochen erst war ich lange im Louvre. Man kann da beobachten, dass es schon vor dem ersten Industrialisierungsschub so etwas wie künstlerische Ich-AGs gab. Einer wie Jacques-Louis David entwickelte nach 1789 eine unglaubliche Effizienz, seine Bildhintergründe wurden nur noch zugestrichelt, weil er für Details keine Zeit mehr hatte. Das Revolutionäre übersetzte sich in skizzenhafte Bilder des neuen Bürgertums. Vergleichbares lässt sich entdecken, wenn man heute die Entwicklung der Mittelschicht sieht, die lyrischen Performances eines Kyril Preobrazhensky oder Installationen von Alice Creischer.

ZEIT: Hört sich an, als sollte die Documenta historisiert werden.

BUERGEL: Natürlich werde ich überwiegend zeitgenössische Kunst zeigen, doch mit historischer Tiefe. Viele unserer Museen wollen und können sich solche Vertiefung nicht mehr leisten. Es zählt nur noch die Besucherquote, und die Forschung wird ausgedünnt, was ein Verhängnis ist. Die Documenta 12 wird diese fatale Logik des Spektakels unterlaufen.

ZEIT: Erwartet uns also karge Kunstkost?

BUERGEL: Überhaupt nicht. Doch werde ich keine voll gestopfte, unverdauliche Ausstellung machen. Warum soll zum Beispiel im Fridricianum nicht mal ein Saal leer stehen? Die Kunst braucht Raum und der Besucher auch, sonst bleibt von der Documenta am Ende nur ein dumpfes Rauschen. Viele Kuratoren nehmen die Besucher nicht wirklich ernst, sie halten Sitzbänke für überflüssig, sie muten den Leuten zehnstündige Filme zu und muffige Videokammern. Für mich sind das kuratorische Katastrophen. Man muss darauf achten, dass sich die Kunstwerke nicht überstrahlen. Und dass am Ende die Leute Lust haben, sich der Ausstellung hinzugeben. Das gilt übrigens auch für den Katalog. Ich möchte wissen, wer die üblichen Monsterformate eigentlich liest. Diese Art von Aufblähung will ich nicht mitmachen.

ZEIT: Wird die Documenta also schrumpfen?

BUERGEL: Sie wird leichter lesbar sein, doch werden wir ganz bewusst die Zahl der Ausstellungsorte erhöhen. Neben dem Fridricianum und der Documenta-Halle wird es mindestens drei neue Räume geben, schon damit die Stadt stärker eingebunden ist. Warum soll man mit der Ausstellung nicht mal in ein Einkaufszentrum gehen? Das wäre doch ein idealer Standort für Kapitalismuskritik.

ZEIT: Kapitalismuskritik?

BUERGEL: Ja, das wird eines der Leitthemen der Documenta 12. Man muss zum Beispiel darüber nachdenken, wie sich die Welthandelsorganisation radikal demokratisieren lässt, wie man globalbürgerliche Interessen artikulieren kann, außerhalb des parlamentarischen Systems. Und was heißt es, wenn sich nach dem Staatskommunismus nun der Wohlfahrtsstaat auflöst? Für solches Nachdenken könnte die Documenta eine Plattform bieten.

ZEIT: Und was hat das mit Kunst zu tun?

BUERGEL: Gewiss, man muss sehr aufpassen, Künstler nicht zu missbrauchen. Die Kunst ist keine Reparaturwerkstatt der Gesellschaft. Politische Konflikte müssen auch politisch gelöst werden. Dennoch kann Kunst jene Kräfte unterstützen, die sich dafür interessieren, die Gesellschaft anders zu denken. Sie eröffnet Gegenräume, in denen wir das, was uns sonst als Unabänderliches widerfährt, in Ruhe betrachten können. Zudem kann die Documenta helfen, neue Formen des Dialogs zu finden.

ZEIT: Auch die Documenta 10 und 11 waren sehr politisch, mit der Folge, dass der ästhetische Eigensinn kaum noch zu erkennen war.

BUERGEL: Da brauchen Sie keine Angst zu haben. Meine Frau Ruth Noack und ich haben schon viele Ausstellungen zusammen gemacht, und immer wollten wir schöne Ausstellungen. Auch die Documenta 12 wird schön werden.

ZEIT: Ist Schönheit nicht ein Unwort in der Gegenwartskunst?

BUERGEL: Kommt drauf an, was man darunter versteht. Für mich ist sie die Erfahrung, an der Bewegung der Welt teilzuhaben. Und diese Erfahrung mache ich, wenn mir etwas begegnet, das ich nicht einfach einordnen und verstehen kann. Wenn mein konventionelles Herangehen an die Welt scheitert.

ZEIT: Warum so negativ? Kann man sich nicht einfach an der Kunst erfreuen?

BUERGEL: Das kann man auch. Ich habe nichts gegen Kunst, die einen tröstet. Sogar gegen Regression habe ich nichts. Wenn aber Regression das Einzige ist, dann wird’s doch etwas langweilig. Deshalb würde ich gern beides zu vereinen suchen, die Erbauung und die Aufklärung, die Anschauung und den Begriff. Ich oute mich als Romantiker im progressiven Sinn von Romantik.

ZEIT: Woher rührt die Lust an der Romantik?

BUERGEL: Ich bin ein Kind des deutschen Bildungsbürgertums. Meine Mutter und mein Vater haben mich schon früh in sämtliche Museen und Kirchen Europas geschleppt. Das empfand ich damals als quälend, aber offenbar ist etwas hängen geblieben. In der Pubertät war es dann die Malerei, die mich gerettet hat. Und nach dem Abitur habe ich tatsächlich die Aufnahmeprüfung an der Akademie für bildende Künste in Wien bestanden. Ich war begeistert von der Theorie, zugleich aber kam mein Lehrer Johannes Gachnang immer mit Originalen, mit Baselitz-Zeichnungen etwa. Da habe ich alles gelernt: das persönliche Herangehen und die Liebe zu den Dingen, das Vertrauen auf sie.

ZEIT: Malen Sie heute noch?

BUERGEL: Es fehlt mir leider an Zeit. Ich lehre an den Hochschulen in Lüneburg und Lyon und bin öfter in Berkeley, um zu forschen.

ZEIT: Das heißt, Sie verbringen nicht jeden Abend auf einer Vernissage.

BUERGEL: Nein, ich bin kein Szenegänger. Mir sind Atelierbesuche ohnehin wichtiger als Ausstellungen. Außerdem brauche ich Zeit für meine Familie, meine zwei Kinder und will auch mit meinen Freunden Spaß haben. Das ist ja eine große Gefahr bei Kuratoren, dass man zum Manager wird und seine Strümpfe nur noch am Flughafen kauft. Man vernachlässigt seine Entwicklung als Intellektueller und folgt irgendwann nur noch Moden.

ZEIT: Die Mode interessiert Sie nicht?

BUERGEL: Schon, aber ich bin ihr nicht ergeben. Dass etwa Video zu einer Art Leitwährung der Kunst geworden ist, halte ich wirklich für idiotisch. Heute filmt ja jeder, egal, ob er Maler, Bildhauer oder Fotograf ist. Darunter leidet aber die ästhetische und die handwerkliche Qualität – und auf die kommt’s an.

ZEIT: Was ist denn Qualität?

BUERGEL: Das lässt sich im luftleeren Raum schwer erklären, da muss man sich über einzelne Kunstwerke intensiv unterhalten. Und genau das begreife ich als Aufgabe des Kurators. Am Anfang einer Ausstellung steht für mich zwar die Theorie, ich schreibe ein Konzept, in dem ich meine Beobachtungen der Kunst auf den Begriff bringe. Dann aber, in der Auseinandersetzung mit den Künstlern, lösen sich die Konzeptideen auf, so wie Zucchini im Risotto. Sie sind noch drin, aber nicht mehr zu erkennen. In diesem Sinne ist ein Kunstwerk von hoher Qualität, wenn es vieles in sich aufhebt, ohne dass es gleich erkennbar ist.

ZEIT: Sind Sie als Kurator also der Chefkoch?

BUERGEL: Nein, ich halte nichts von autoritären Gesten. Und die genialische Rolle eines Harald Szeemann ist mir suspekt. Ich verstehe mich eher als Réalisateur, als jemand, der Möglichkeitsräume öffnet und Macht verteilt.

ZEIT: Machen Sie sich damit nicht überflüssig? Am Ende entscheiden die Künstler alles selbst.

BUERGEL: Wäre ja auch nicht schlecht. Doch meine Erfahrung ist eine andere. Viele Künstler brauchen Widerspruch, Reibung und den Machtkampf. Die meisten Kuratoren führen solche Kämpfe nicht, sie wollen nur mit den Künstlern kuscheln. Heraus kommt dann irgendein affirmativer Quark.

ZEIT: Für solche Auseinandersetzungen braucht es viel Zeit. Gibt es die überhaupt bei einer Großausstellung wie der Documenta?

BUERGEL: Vielleicht lade ich ja nur wenige Künstler ein, wer weiß. Außerdem habe ich vier Jahre Zeit. Da passt eine Menge Streit hinein.

Die Fragen stellte Hanno Rauterberg