Die
Familiennamen haben sie schon vor längerer Zeit aufgegeben, anzutreffen
sind sie stets mit perfektem Äußeren und auch zu zweit (immerhin haben
sie 2008 geheiratet): Gilbert & George sind seit 30 Jahren das
dynamische Duo der Gegenwartskunst und wahrscheinlich auch die
Vorläufer der Young-British-Art-Szene. Jetzt beehren sie das Linzer
Lentos mit ihrer Ausstellung „Jack Freak Pictures“ und erzählen dem
„Schaufenster“ vom Schneidersterben im Londoner East End, ihrer
antielitären Einstellung und warum sie ganz froh sind, dass Charles
Saatchi nie eines ihrer Bilder gekauft hat.
Die
Ausstellung, mit der Sie nach Linz gekommen sind, zeigt „Jack Freak
Pictures“. Der Jack bezieht sich auf die britische Fahne, den Union
Jack, der in diesen Arbeiten allgegenwärtig ist. Wer aber ist der Freak
– also der Sonderling, der Narr, die Missgeburt?
Gilbert:
Jeder von uns. Finden Sie nicht, dass wir alle etwas Sonderbares an uns
haben? Und der Freak hat eine lange Geschichte, nicht nur in der Kunst.
Sogar die schönen jungen Frauen auf den Laufstegen in der Mode sind
Freaks. Halb Spinne, halb Mensch, so stampfen sie über den Catwalk. Und
es ist ja nicht einmal ein „human walk“, sondern eben ein „cat-walk“. George: Auch ihre Art zu schreiten ist komplett unnatürlich, ihr Gang eigens für diesen Auftritt geschaffen. Gilbert: Und sehr aggressiv gegenüber Männern. George:
Weil die Grundaussage ist: Eine so schöne Frau wie mich wirst du dein
ganzes Leben nicht kriegen. Das gefällt dann wiederum den Frauen, die
das sehen – und es sind ja die Frauen, die kaufen sollen, was da
gezeigt wird.
Und die Fahne, ist die auch freakig schön? Oder eine Inkarnation der „Britishness“?
Gilbert:
Es war interessant, als wir kürzlich die Fernsehbilder des Royal
Wedding gesehen haben – überall in Großbritannien feierten die Menschen
ihre Straßenpartys. Wir fanden das wunderbar, das waren ja genau solche
Jack Freak Pictures: Alte Damen trugen Union-Jack-Hüte, andere aßen
Kuchen mit Union-Jack-Glasur. Und alles war sehr feierlich. George:
Als wir angefangen haben, war es noch schwierig, mit der Flagge als
Motiv zu arbeiten. Die Rechte beanspruchte sie für sich, und die linke
Intelligentsija verurteilte sie. Wir fanden damals schon, der Union
Jack gehört allen. Heute ist er längst nicht mehr so politisch. Gilbert: Sogar auf Handtaschen von Gucci findet man ihn. Mit lokaler Identität hat das nichts mehr zu tun.
Apropos
Royal Wedding, glauben Sie, dass William König wird – oder doch sein
Vater? Ich glaube, Sie mögen den Prince of Wales sehr? Ist er Ihr
Lieblingsroyal?
George: Natürlich wird Charles König werden, aber Harry ist uns noch lieber. Gilbert: Weil er ein Royal ist und ein fieses Bürschchen – „royal“ und „naughty“, das ist eine tolle Kombination, finden Sie nicht? George:
Als wir unlängst eine Ausstellung in Berlin eröffneten, haben alle
Journalisten gefragt, ob wir denn nicht zur Hochzeit eingeladen wären
und ob uns das nicht leidtäte. Da meinte ich, schon, aber ich freue
mich ohnehin viel mehr auf Prince Harrys Coming-out-Party. Der
Botschafter war auch dort, er hat das gehört und meinte nur: „Da werden
Sie aber lange warten müssen.“ Das fand ich ganz außerordentlich,
nämlich dass er so amüsiert reagierte. Vor zehn oder 20 Jahren
wären alle Anwesenden ob meiner Bemerkung entsetzt gewesen. Heute lässt
sich so etwas ganz locker dahinsagen.
Sie leben im
Londoner East End – einem Mikrokosmos, meinten Sie einmal, in dem sich
alles spiegle, was in der Gesellschaft von Belang sei: Wie war das
gemeint?
Gilbert: Nun ja, dort gibt es alles, das
ist
schon eine außergewöhnliche Mischung: Banker, Bangladescher, Künstler,
Musiker, Prostituierte, Drogensüchtige. In den letzten Jahren hat sich
vieles verändert, das East End ist sehr fashionable geworden. Jedes
Fotoshooting muss anscheinend hier stattfinden, vor unserer Haustür. Es
kommen auch viele Japaner vorbei, die finden ganz toll, wie wir
aussehen, und fotografieren uns. Dabei wissen sie oft gar nicht, wer
wir sind.
Immerhin sind Sie als „Living Sculptures“
dafür berühmt, Ihr Auftreten als Kunstwerk zu stilisieren. Aussehen
spielt da eine große Rolle. Ich habe gelesen, dass Sie Ihre Anzüge
selbst entwerfen. Lassen Sie die dann in der Savile Row nähen, wo
Londons exklusive Herrenmaßschneider ansässig sind?
George: Das würden wir nie tun, die werden alle im East End genäht. Gilbert:
Als wir dorthin gezogen sind, gab es in unserer Straße viele jüdische
Schneider, Mister Lustig, Mister Chapman, Mister Lieberberg. George:
Irgendwann war dann nur mehr einer übrig, und eines Tages hieß es, er
würde seinen Betrieb schließen. Also wollte ich wissen, wieso er die
Firma, die es seit 120 Jahren gibt, nicht an einen seiner Söhne
weitergibt. Daraufhin hat er mich gefragt, was meiner Meinung nach der
Sohn eines jüdischen Schneiders im Leben so tut. Er hat es mir
verraten: Neurochirurg ist er. So haben wir heute zypriotische
Schneider, die sind aber auch nicht schlecht.
Der
„Daily Telegraph“ nannte Sie einmal die „godfathers of British
contemporary art“. Können Sie mit dieser Rolle etwas anfangen?
George: Die „fairy godmothers“, die guten Feen, das wäre uns eigentlich lieber. Gilbert:
Natürlich sehen wir die neuen Talente, sie leben ja dort, wo wir leben.
Sie schauen in unser Klo, wohnen in unserer Straße, haben ihre Ateliers
in unserem Hinterhof. George: Wir winken ihnen zu. Das reicht aber, befreundet sind wir nicht.
Schauen Sie sich aber auch die Kunst von diesen jungen Leuten an?
George: Nein, wir schauen uns überhaupt keine Arbeiten von anderen Künstlern an. Wir unterstützen sie, aber wir lassen sie walten. Gilbert:
Überhaupt gibt es so viele unterschiedliche Kunstwelten heutzutage,
Russland, Indien, China, Südamerika – wenn man da überall am Ball
bleiben will, ist man verloren. George: Früher hat sich das Ganze in fünf Ländern abgespielt, da gab es jeweils zehn wichtige Künstler, das war wie eine Großfamilie.
Wann hat sich das verändert?
George: In den letzten zehn Jahren hat es eine regelrechte Explosion gegeben. Gilbert:
Wegen Leuten wie Hans Ulrich Obrist zum Beispiel, der ein guter Freund
von uns ist und um die Welt reist, nach Südamerika, China und sonst
wohin, um neue Talente aufzustöbern. Daraus hat sich ein riesiger
Zirkus entwickelt. Gilbert & George (unisono): Die ganze Welt, eine Kunstgalerie.
Was
halten Sie eigentlich von Charles Saatchi – immerhin eine
Schlüsselfigur für die Young British Artists, für die Sie „fairy
godmothers“ sein könnten?
George: Wir
genießen das große Privileg, zu den wenigen Künstlern zu zählen, von
denen Saatchi nicht eine Arbeit gekauft hat. Das können nicht viele von
sich behaupten. Wir haben lange gebraucht, bis wir das realisiert
haben. Früher haben uns Sammler in London besucht und uns gefragt: Und,
welche eurer Arbeiten hat er gekauft? Damals war uns das sehr peinlich,
nicht antworten zu können.
Wie bekannt sind Sie in Großbritannien, werden Sie auf der Straße angesprochen?
Gilbert: Ja, die Menschen wissen, wie wir aussehen, weil wir ein Bild von uns geschaffen haben, das ihnen gefällt. George:
Wir waren schon als Studenten antielitär eingestellt und fanden nie,
dass Kunst nur dann gut ist, wenn so wenige wie möglich sie verstehen.
Das hat uns nie interessiert. Gilbert: Es gäbe endlos
viele Geschichten zu erzählen, wie Leute auf uns zugekommen sind, weil
sie uns erkannt haben. Wir sind nicht Teil einer Elite, sondern
durchdringen das Leben der Menschen.
Kunst hat gesellschaftlichen Anspruch zu haben?
Gilbert:
Wenn sie es nicht schafft, etwas zu erzählen, bleibt Kunst auf einen
kleinen Insiderkreis beschränkt. Deshalb wollen wir auch immer schön
gemachte und erschwingliche Kataloge und Poster zu unseren
Ausstellungen anbieten. Das ist eine Art, unsere Arbeit unter die Leute
zu bringen. Wichtig sind auch Ausstellungen wie hier in Linz, die für
die Museen erschwinglich sind, weil sie neue Arbeiten zeigen. Die Jack
Freak Pictures sind sehr rezent, und wir haben uns von den Galerien
erbeten, dass auch verkaufte Exponate zwei Jahre lang für eine
Wanderausstellung zur Verfügung stehen würden. George:
Retrospektiven hingegen sind so gut wie unleistbar. Bei der großen
Gilbert-&-George-Ausstellung in der Tate Modern war es unheimlich
kostspielig und aufwendig, alles zusammenzutragen.
Sie wollen also vermeiden, dass Ihre Kunst in den Wohnzimmern von Sammlern verschwindet?
George:
Ich würde sagen, da geht es uns wie jemandem, der in der medizinischen
Forschung tätig ist. Wenn Sie ein Mittel gegen eine Krankheit finden,
wollen Sie es schließlich auch nicht nur ihren drei besten Freunden zur
Verfügung stellen, sondern die Arznei soll in Nigeria und Moskau
erhältlich sein. Kunst ist am Ende auch eine Dienstleistung.
2007
haben Sie in puncto Demokratisierung und Verfügbarmachen ein
Meisterstück geliefert; da wurde nach einer BBC-Doku 48 Stunden lang
ein Kunstwerk zum Download angeboten.
George:
Stimmt, und wir waren verwundert, wie gut das funktionierte. Viele
haben natürlich die Datei gespeichert und geben die Arbeit jetzt als
Geburtstagsgeschenk weiter. Ich erinnere mich, als der Download aktiv
war, sind wir gerade von London nach New York geflogen. Als wir in
unser Hotelzimmer gekommen sind, stand da das schwarze Zimmermädchen
und hatte bereits einen Ausdruck in der Hand, den sie von uns signiert
haben wollte. In New York, denken Sie nur, das war faszinierend.