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Wir sind verbrecherische Schatztruhen
Was ist der Mensch? Für den deutschen Vordenker
und -macher Alexander Kluge (siehe "Ein kluges Leben") kann man auf
solch eine Frage prinzipiell keine kurze Antwort finden. Doch wenn
man ihn denn fragen täte, so würde er wohl in etwa antworten: Der
Mensch ist zum Ersten ein eigensinniges Kind, zum Zweiten ein
sagenhaft komplexes Lebewesen, das die Geschichte von 4,2 Milliarden
Jahren in sich trägt, und zum Dritten eine faule Sau.
So,
aber (wie es sich für einen erfahrenen und gemäßigten Schriftsteller
und Sprecher gehört) ausschweifender und fantasievoller, begann der
70-Jährige vergangenen Sonntag im Wiener Volkstheater seinen Vortrag
über "Globalisierung und Gewalt - Perspektiven nach dem 11.
September". Kluge war der dritte und letzte Gast dieser Reihe und
ein perfekter Kontrast zu Slavoj Zizek und Jean Baudrillard. Statt
psychoanalytischer Realitäts-Paranoia und französischer
Medien-Depression wartete der Deutsche mit Menschlichkeit auf.
Unabsichtlicher Widerstand
Denn Kluge
geht trotz aller widrigen Umstände davon aus, dass "der Mensch" sich
nicht unterkriegen lässt; durch seinen Eigensinn, seine Komplexität
und seine Trägheit sei er praktisch unregierbar, sprich:
unkalkulierbar. Wie drückt das ein kluger Mensch aus? Nun: "Alles in
der Welt fällt zurück auf Menschen samt ihrer Trägheit, ihrer
Irrtumsfähigkeit, ihrer Ermüdungsfähigkeit, und damit auf
Normalität, auf Menschlichkeit. Daran scheitern Revolutionen,
Exzesse, aber auch jede Abstraktion und jeder Krieg ermüdet an der
Realität von Menschen."
Aber es gibt sie doch, die Exzesse!?
Die Exzesse des Turbo-Kapitalismus auf der ganzen Welt. Die Exzesse
der Gewalt wie jene vom 11. September, wie jene in Palästina und in
Israel, wie jene im Privatfernsehen und im Wohnzimmer, wenn die Frau
wieder einmal unerlaubterweise die Fernbedienung unter ihre
Kontrolle bringen wollte.
All das und viel mehr leugnet
Kluge nicht. Im Gegenteil: Ebenso wesentlich wie diese Ausbrüche und
Auswüchse sind für ihn die alltäglichen Akte der passiven Gewalt.
Stichworte wie Ausgrenzung, Wegsehen, Unterlassung, jeweils
absichtslos natürlich. "Unser Europa ist in der Gefahr, an seinen
Außengrenzen zum Verbrecher zu werden, wenn man alle Menschen
ausgrenzt, die nicht zu uns hineindürfen. Und hier, in der
Gleichgültigkeit, die alles töten kann, da liegen die Wurzeln für
Widersprüche in unserer Gesellschaft, auch für Verzweiflungstaten,
auch für zunehmende Abstraktheit von Regierungsmaßnahmen, und von
Terroristen und von Fundamentalismus."
Das Glück auf
den Rücken
Zurück zur Ausgangsfrage: Für Alexander Kluge
ist der Mensch trotz dieses aktiven und passiven Gewaltpotenzials
"im Grunde auch an Großzügigkeit reicher, als wir meinen. Wir sind
fahrbare, gehfähige, sogar zum aufrechten Gang fähige Schatztruhen,
und wir haben diesen verbrecherischen Hang, auszugrenzen, unser
Glück auf Kosten anderer zu suchen."
Die Metapher von der
Schatztruhe, nur eine von vielen ("Schriftsteller sind
Metaphernfabrikanten"). Da wäre auch der gute alte Odysseus. Der
Haudegen, der sich nicht verführen lässt von den Sirenen und dafür
selbst fesseln muss; der Liebende, der zurück will zu Frau, Heim und
Bett. Ein unverrückbares Bett, das er selbst aus einem lebenden
Olivenbaum geschlagen hat - seine gute alte Identität. Kluge: "Und
wenn ich mit der Heftigkeit des Odysseus hier wieder zu meiner
Identität zurück will, nach Hause will, dann bin ich ein
Friedensschließer. Und das kann jeder Mensch in sich nachprüfen: Wo
liegt meine Identität? Und die Summe aller Identitäten ist das
einzige Gegenrezept, das ich weiß gegen die verrückt werdenden
Obrigkeiten."
Das ist gut so
Immerhin ein
Gegenrezept. Dafür lohnt es sich zu kämpfen, das ist "eine
Gelegenheit zur Parteilichkeit". Denn man muss doch etwas tun, meint
Kluge, nichts zu tun wäre ein Verbrechen. Zumindest träumen muss
man, den Möglichkeitssinn einschalten. Zu sagen "jetzt lassen wir
es: das kann's nicht sein. Weil dann würden wir immer von Unglück zu
Unglück, von kollektiver Katastrophe zu kollektiver Katastrophe
dahineilen. Das ist eigentlich dem Erbe, das wir in uns tragen,
unwürdig."
Alexander Kluge geriet am vergangenen Sonntag im
Wiener Volkstheater, und das war gut so, ins Schwärmen. "Denn es
gibt nur diese Bedingung für Veränderung von Verhältnissen." Der
Mensch: ein Träumer.
Ein Transkript von Alexander Kluges
Vortrag finden Sie hier.
Lesen
Sie dazu auch: Ein
kluges Leben
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