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derStandard.at | Kultur | Kultur & Politik 
24. Jänner 2007
14:10 MEZ
Tipp
Im Rahmen des tqw-Schwerpunkts Education Acts. Kunst Macht Bildung veranstalten das Institut für Theater-, Film und Medienwissenschaft, Universität Wien und das Tanzquartier Wien heute, Samstag, ein Symposium zum Thema. Vortragende: Inge Baxmann, Andrzej Wirth, Günther Heeg, Josef Szeiler, Thomas Lehmen, Sibylle Moser und Claus Pias. Im Tanzquartier Wien, 10.00-18.00 Uhr.
Zur Person
Monika Meister
ist Professorin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Universität Wien; Andrea B. Braidt und Eva Krivanec sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am TFM.  
Foto aus dem besprochenen Band
Kunst gegen die Gesetze der Wirklichkeit: Alles ist Skulptur, meint der 52-jährige Österreicher Erwin Wurm, der nicht davor zurückschreckt, auch die Gesetze der Logik auf den Kopf zu stellen. Unsere Abbildung stammt aus Wurms opulentem Bildband und Ausstellungskatalog "The artist who swallowed the world" (€ 39,10, Hatje Cantz), der die künstlerischen Absichten Wurms beleuchtet und das Kunstbusiness ironisch hinterfragt. Ausstellung im Mumok noch bis 11. Februar.

Bildet Kunst?
Welches Wissen schafft Kunst? Und kann man von ihr lernen? Überlegungen zur Einrichtung des neuen Ministeriums für Unterricht und Kunst

Mit der Einrichtung des neuen Ministeriums, das die Bildungs-, Kunst- und Kulturagenden vereint, lässt sich die alte Frage nach dem Zusammenhang von ästhetischer Wahrnehmung und Wissensbildung neu stellen. Gerade angesichts einer globalisierten Wirklichkeit, in der stabile Wertordnungen infrage gestellt werden, ist diesem Zusammenhang verschärfte Aufmerksamkeit zu widmen, wobei auffallend ist, dass in den Bildungsdebatten der vergangenen Jahre das Verhältnis von Bildung und Kunst kaum zur Sprache gekommen ist. Das verwundert umso mehr, als die einzelnen künstlerischen Praxen wesentliche Beiträge zur Bildung zu leisten vermögen.

Verstehen wir Bildung nicht als quantifizierbare Produktivmachung von Humankapital, sondern als Vorgang des Entfaltens menschlicher Fähigkeiten, wird evident, welche Bedeutung den Künsten zukommt. Kunst bildet durch die Schärfung und Sensibilisierung der Sinne ein Differenzierungsvermögen aus, das vielfältige Blicke auf die Wirklichkeit zulässt. Darüber hinaus können die Künste Widerstände produzieren, indem sie Unterbrechungen setzen, Störungen und Irritationen des Geläufigen auslösen; neue Zusammenhänge können hergestellt werden, die "versteinerten Verhältnisse werden zum Tanzen gebracht" (Karl Marx).

Gerade die performativen Künste – Theater, Performance, Tanz, Installationen – vermögen, durch ihr partizipatives Potenzial, Spielräume für Erkenntnisse zu eröffnen. Diese theatrale Partizipation, verstanden als eine besondere Wahrnehmungsanordnung, die Akteure und Zuschauende in einer raumzeitlichen Kopräsenz interagieren lässt, hat grundsätzlich experimentellen Charakter. Hier kann ein Lernprozess in Gang gesetzt werden, der über das bereits Gekonnte und Gewusste hinausweist und die Macht des vorherrschenden Wissens in Frage stellt; ein Spiel, das dem ausschließenden Entweder-oder der Wirklichkeit ein inklusives Sowohl-als-auch gegenüberstellt. Dieser Lernprozess gestaltet sich insbesondere in den "performing arts" durch ein bestimmtes Verhältnis von Text – gefasst als komplexes Zeichengefüge – und Materialität des Körpers, dessen Präsenz nicht auf die Ebene der Bedeutung reduzierbar ist. Was wir durch die ästhetische Erfahrung lernen können, ist also ein kompetenter Umgang mit Komplexitätssteigerung. Die Frage ist nun, wie man von dieser zunächst abstrakten Bestimmung zu konkreten politischen Umsetzungen findet.

Liest man das schmale Kunst- und Kulturkapitel im gegenwärtigen Regierungsprogramm, so fällt zunächst der Begriff der "kulturellen Partizipation" auf, einer der wohl ältestgedienten sozialdemokratischen Kampfbegriffe gegen ein elitäres Kunstverständnis. Als erster von zwölf Punkten werden die Förderung der kulturellen Teilhabe und verstärkte Maßnahmen zum Ausbau kultureller Bildung proklamiert. Sollen nicht die alten Kunstvermittlungsprogramme aus den Schubladen gezogen werden, muss sich einerseits der Bildungsbegriff gegenüber der Kunst öffnen, und andererseits die Kunst ihr Lernpotenzial jenseits altbackener Belehrungsattitüden realisieren. Die Dimension ästhetischer Erfahrung lässt sich mit einem rein utilitaristischen Bildungsansatz nicht vereinen. Denn nicht alles Unbekannte, nicht alles Fremde ist im Lernprozess assimilierbar. Immer bleibt, als permanente Herausforderung an das Individuum und an die Gesellschaft, ein nicht integrierbarer Rest. "Lernen, ein Akt des Aufnehmens und zugleich Abstoßens. Ein Akt der Kritik." (Bertolt Brecht) Unsere Gesellschaft kann es sich nicht leisten, auf das kreative Potenzial, das sich im Lernprozess der Kunsterfahrung entfaltet, zu verzichten.

Kein umfassendes Bildungskonzept kommt ohne Schiller aus, weil in seinen theoretischen Texten zentrale Begriffe und Felder ästhetischer Wahrnehmung in einen modernen Kontext gestellt werden. Schillers Ausgangspunkt ist die Fassung des Individuums als zerrissen, als ein sich selbst entfremdetes Subjekt, das seine geistig-sinnlichen Anlagen nicht entsprechend entfalten kann. Hier können, so Schiller, die Künste Abhilfe schaffen. Im Spiel wird die fundamentale Ambivalenz des Menschseins erfahrbar, die Wiederherstellbarkeit einer "ursprünglichen Einheit" wird als Illusion erkannt. Gerade in dieser desillusionierenden, d.h. aufklärerischen Funktion definiert Schiller die Schaubühne als "moralische Anstalt". Er entwirft mit dem Theater einen Ort, der zur umfassenden Bildung des Geistes, der Sinne und des Herzens beiträgt, kurz, einen Ort zentraler Bedeutung für Gesellschaft und Subjekt, für öffentliches und privates Leben. Das Theater wird mittels seiner die Sinne einbeziehenden affektiven Wirkung zum Bildungsinstrument erster Ordnung. Hier soll der Mensch, der Staatsbürger, zur Humanität erzogen werden, er soll zur Kritik an Machtmissbrauch angeleitet und zum sozialen Handeln angeregt werden.

Was Friedrich Schiller als Funktion des Theaters im gesellschaftlichen und politischen Gefüge des bürgerlichen Staates am Ende des 18. Jahrhunderts beschreibt, lässt sich mit Elfriede Jelinek in einen zeitgenössischen Kontext übertragen. Für sie ist das Theater der einzige Ort, an dem man die Macht auftreten lassen kann, an dem Strukturen modellhaft ausgestellt und dadurch sinnlich erfahrbar gemacht werden können. "Die Macht wird durch das Machen (und das Gemachte) sozusagen ausgehöhlt. Die Macht herrscht nicht mehr über die ganze Welt, sondern nur mehr über einen abgegrenzten Raum, und daher kann man anfangen, mit ihr zu spielen." (Elfriede Jelinek) Dieser emanzipatorische Impetus in Jelineks Theaterkonzeption hat einen seiner Bezugspunkte im Theater Bertolt Brechts. Für Brecht ist das pädagogische Potenzial des Theaters wesentlicher Bestandteil seiner radikalen Neubestimmung. Da Brecht Denken und Erkennen als Verhalten zu beschreiben versucht, kann das Theater Modelle bieten, in denen Denken und Handeln experimentell erprobt werden können. Seine zentrale Methode ist die Offenlegung der ästhetischen Verfahrensweisen des Theaters, die Eingriffe ermöglicht, Widersprüche zeigt und ausagiert. Argumente werden in ihrer Widersprüchlichkeit nebeneinander stehen gelassen, und es ist der Zuschauer, der entscheiden muss, welche Haltung er zum Geschehen einnimmt. "Die Kunst soll die Dinge weder als selbstverständlich noch als unbegreiflich darstellen, sondern als begreiflich, aber noch nicht begriffen." Und das erfasst exakt die Möglichkeit von Bildung durch Kunst. Dieser über die Kunst vermittelte Erkenntnisprozess ist, und das ist wesentlich, zu verstehen als lustvolle Erfahrung, die geradezu anthropologisch begründbar ist: nachahmen, (und anderen beim Nachahmen zuschauen), macht Spaß. Und das weiß jedes Kind.

Die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Bildung ist, neben rezeptionsästhetischen Überlegungen zur Produktion, Vermittlung und experimentellen Aneignung von Wissen, vor allem auch eine gesellschaftspolitische Frage: Welches Wissen schafft Kunst? Das ist genau die Frage, die sich ein Ministerium für Bildung, Kunst und Kultur stellen muss. Denn jenes Wissen, das durch Kunst generiert wird, ist mit Hans-Peter Dürr als "Orientierungswissen" zu bezeichnen, das gerade in unserer Gesellschaft dringend gebraucht wird. Im Gegensatz zum expliziten, pragmatischen und spezialisierten "Verfügungswissen" (Grundlagenwissen) vermag das Orientierungswissen fragmentierte Wissensbestände zu kontextualisieren und somit unabhängig von möglichen Anwendungen Gestaltungsfreiräume zu schaffen. In dieser Hinsicht scheint es sinnvoll und vielversprechend, Kunst, Kultur und Bildung in einem Ressort zusammenzufassen und damit die Möglichkeit einer programmatischen Perspektive aufzutun: an der Kunst das Bildungspotenzial realisieren und die Bildung als Prozess ästhetischer Erfahrung begreifen. (ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 20./21.1.2007)


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