Wesen aus Fantasien von Lust und Gier
Trieb und Tabu. Hieronymus Bosch und Pieter Bruegel im Vergleich mit Gelatin und Sarah Lucas.
Hedwig Kainberger Krems (SN). Beim Blättern durch den Katalog traut man seinen Augen kaum: Da ist links ein Foto der Künstlergruppe Gelatin auf der Biennale Venedig, wo sie eine Glasschmelze betrieben haben: ein bauchiger Ofen, aus dem oben Flamme und Rauch entweichen, dahinter ein Berg Holz und ein wildes Dickicht von Blättern, im Vordergrund sind sonderbare Menschen, manche halb nackt, manche glotzend oder ihre Digitalkameras haltend, irgendwo ein Feuerlöscher. Rechts auf dieser Doppelseite ist das Abbild eines Ölgemäldes von Hieronymus Bosch, auch da ist ein bauchiges, ofenartiges Gebilde, dazu Feuer und Rauch, im Vordergrund sind sonderbare Gestalten, irgendwo ein Heiliger mit Buch.
Diese Ähnlichkeit ist nicht beabsichtigt. Doch zufällig wird sie auch nicht sein, denn spaziert man durch die am Samstag in der Kunsthalle Krems eröffnete Ausstellung „Lucas Bosch Gelatin“, entdeckt man in einigen der Gebilde von Gelatin Ähnlichkeiten zu Figuren von Hieronymus Bosch, Pieter Bruegel d. Ä. und deren Nachahmern. In Plastilinbildern von Gelatin sind Krater, Fratzen, aufgerissene Münder; eine ihrer Skulpturen heißt „Kopffüßler“. Finden also heute wie vor 500 Jahren die Künstler, wenn sie sich mit Tabu, Trieb und Todsünde beschäftigen, ähnliche Formen?
Ein fantastisches Gelatin-Wesen, der „Arc de Triomphe“, vulgo Penis-Mann, der 2003 vor dem Rupertinum in Salzburg einen Skandal ausgelöst hat, war schon auf dem Weg von London nach Krems. Doch er ist zu groß für das Portal der Kunsthalle, er hätte zerschnitten werden müssen, also bleibt er derweil im Container.
Mitgestaltet wurde die Kremser Ausstellung von der Londoner Künstlerin Sarah Lucas, auch sie thematisiert Lust und Sexualität. Während die Künstler von Gelatin ihr Schaffen offensichtlich spielend, fantasievoll, lachend und dionysisch angehen und zur Gestaltung der neuen Schau etwa zwanzig freundschaftliche Helfer aus ganz Europa nach Krems geholt haben, arbeitet Sarah Lucas an ihren Objekten und Installationen allein, konzentriert, präzise. Zum Beispiel spannt sie über einen alten Küchentisch eine Strumpfhose, zieht deren Bauchgummi nach hinten, als hänge ein unsichtbares Wesen rücklings auf dem Tisch, die gespreizten Strumpfbeine sind an der auf dem Boden liegenden Tischlade angenagelt. Tisch, Kleiderhaken und Strumpfhose ergeben – derart angeordnet – eine schockierende Assoziation zu Gewalt an einer Frau.
Um die Brücke fünf Jahrhunderte zurückzuschlagen, hat Hans-Peter Wipplinger, Direktor der Kunsthalle und Kurator der Ausstellung, Kostbarkeiten besorgt: Originalgemälde und Stiche der Alten Meister – Leihgaben aus dem Kunsthistorischen Museum, der Albertina, aus Dijon und der Sammlung Liechtenstein.
Nach „Engel und Bengel“ und „Lebenslust und Totentanz“ sei „Lucas Bosch Gelatin“ ein weiteres Beispiel für sein Anliegen, epochenübergreifende Ausstellungen zu gestalten, sagte Hans-Peter Wipplinger den SN. So versuche er, den Liebhabern alter Kunst das Zeitgenössische näherzubringen und zudem die Freunde der neuen Kunst zu alten Wurzeln hinzuführen. Bis 6. November