09.09.2002 12:48
Kein Spektakel ohne Stecker
Schmerzhafte Vorausblicke in die Zukunft, überlange Gitarrensaiten, der
11. September in der Endlosschleife ... - Die ersten Impressionen
Schmerzhafte Vorausblicke in die Zukunft, überlange
Gitarrensaiten, der 11. September in der Endlosschleife und viele
Installationen, denen man sich am besten vor allem spielerisch nähert: erste
Impressionen von der am Samstag gestarteten Ars Electronica in Linz.
So analog und geheimnisvoll der Wahrsagetisch des Briten Crispin Jones
anmutete: Auch das Möbel, welches auf seiner Oberfläche Antworten
hervorzauberte, funktioniert mit Hightech, zumindest Strom. The invisible
Force, so der Titel von Jones' Installation, ratterte die Wörter gemäß dem
Pincode der Fragekarte, die man eingesteckt hielt und dabei mehr und mehr
Schmerz empfand. In die Zukunft schauen muss einfach weh tun. Dieses mit dem
Prix Ars Electronica prämierte Werk, eine von vielen Standortbestimmungen
der aktuellen Medienkunst im O.K. Centrum für Gegenwartskunst, zeigt klug, wie
man die Computer-Hellseherei und -Gläubigkeit im Ganzen ironisieren
kann.
Tolle Technologie, aber sonst nichts dahinter: Das hatte ja
Oliviero Toscani im Vorjahr frech von der Medienkunst behauptet: "Was bleibt,
wenn man den Stecker rauszieht?", fragte er damals - und hatte somit den Titel
der heurigen Ars Electronica in Linz geschaffen.
Keine Spur vom heurigen
Thema Unplugged am Eröffnungstag dieses Festivals für Kunst, Medien und
Gesellschaft. Höchstens die Installation des Nigerianers Emeka Udemba, der vor
dem Brucknerhaus seine World White Walls aufstellte: zwei Schleusen, eine
rosengefüllte für US- und EU-Bürger, eine sandige, dornige für "others".
Die Cyber Arts im Offenen Kulturhaus (O.K.) laufen quasi wie immer:
Vergnüglich und selten ärgerlich. Und sie laufen besonders, wenn man alles
spielerisch angeht, seine rechte Hirnhälfte ebenfalls benutzt. Denn wie sollte
man logisch die Erschaffung der längsten Gitarrenseite der Welt argumentieren?
Natürlich überträgt sie die Schwingungen ins Internet und zieht sich damit über
weite Bahnen. Vernetzt und zugenäht! Und diese unausgereiften
Sprach-erkennungscomputer bringen jedes noch so gefinkelte Konzept ins Wanken.
Neben aufwändigen Elektroinstallationen üben sich Studierende der Kölner
Medienhochschule, zu Gast in der Linzer Uni, in konzeptueller Fotografie.
Frischer Geist umweht diesen erst seit einem Jahr implementierten, vergnüglichen
wie informativen Teil der Ars.
Neue Schattenspiele
Megagerätschaften bei den "Body Movies" des mexikanisch-kanadischen
Künstlers Rafael Lozano-Hemmer am Linzer Hauptplatz. Dabei ging er von einem
bloßen Schattenspiel aus, wofür früher Kerze und Leinwand genügten. Die
Körperfilme produziert die Linzer Bevölkerung - unbewusst, wenn sie, etwa auf
die Straßenbahn wartend, aufgenommen wird, und bewusst und gerne
spielend-gestikulierend wie am lauen Eröffnungsabend.
Spektakel braucht
auch viele Stecker. Die traditionelle Klangwolke ließ sich auf Linz herab, mit
Laser und u. a. aus bunten Glaskästen-Liften produzierter, zuweilen
esoterisch-ätherischer Betroffenheits-Weltmusik. Die Harmonices Mundi, so
das Stück von Christian Muthspiel und Hans Hoffer, müssen heutzutage natürlich
gebrochen werden. Und zwar mit dem Vorschlaghammer, dem "Komplex 11. September".
Der zerstörerische Flug ins WTC, die fliehenden Massen in Endlosschleife. Dazu
Feuerwerk und Applaus.
Es folgte kitschiger Techno-Ausdruckstanz: Eine
Performance der japanischen Gruppe 66b/cell, die nach der Klangwolke mit einer
hybriden Faust-Version die alte Tabakfabrik rocken wollte. (DER STANDARD,
Printausgabe, 9.9.2002)