„Der Mensch schafft eine zweite Natur“
Interview. Die Ars Electronica ist 30: Intendant Gerfried Stocker spricht mit den SN über die Allgegenwart der Zukunft.
CLEMENS PANAGL Seit 1979 wirft die Ars Electronica von Linz aus Blicke in die Zukunft. Heuer wird auch zurückgeblickt: Das Festival für „Kunst, Technologie und Gesellschaft“ feiert seinen 30. Geburtstag. In Ausstellungen und Symposien geht es ab heute, Donnerstag, um das Thema „Human Nature“. Gerfried Stocker, Intendant und Leiter des Ars Electronica Centers, spricht im SN-Interview über die Haltbarkeit von Prognosen und wahr gewordene Utopien zwischen Facebook und „Big Brother“. Wenn die Ars Electronica Bilanz über drei Jahrzehnte zieht: Wie viele Zukunftsprognosen von einst sind heute Wirklichkeit? Stocker: So eine Bilanz ist natürlich immer sehr durchwachsen. Vieles ist eingetreten, anderes ist heute weiter weg, als man vor 20 Jahren vermutet hätte. Wieder anderes ist wahr geworden, allerdings in anderer Form. Zum Beispiel ist die künstliche Intelligenz, so wie sie in den 1980er-Jahren prophezeit wurde, heute in weiter Ferne. Aber andererseits haben wir bei jedem Anruf in einem Servicecenter, wo man sich durch Spracherkennungsmodule durchquälen muss, mit Maschinen zu tun, die mit uns autonom kommunizieren. Ende der 1970er -Jahre war das eine Zukunftsvision! Und 1990 hieß das Thema „Digitale Träume, virtuelle Welten“. Damals galten bei allen Utopien einer „Virtual Reality“ Datenbrillen als das Ding der Zukunft. Die haben sich zwar überhaupt nicht durchgesetzt. Trotzdem hat die virtuelle Realität längst einen Siegeszug angetreten, wie man nicht zuletzt bei Computerspielen sieht. Mit dem Thema „Human Nature“ stellt die Ars Electronica heuer statt der Technik aber den Menschen in den Mittelpunkt . . . Stocker: Wir wollten zum Jubiläum ein Thema finden, das auch etwas über die Ars Electronica selbst aussagt. Unter dem Titel können wir auf unsere Geschichte zurückblicken und zugleich den Blick nach vorn richten. Dem Festival ist es ja stets darum gegangen, zu kommentieren, wie der technische Fortschritt in den Alltag eindringt und unser Leben verändert. Es geht heuer also um die Möglichkeiten der Gentechnik? Stocker: Das ist eine Seite. Ein anderer Schwerpunkt ist die digital vernetzte Welt, die sich der Mensch wie eine zweite Natur erschaffen hat. Das ist ja nach 30 Jahren auch ein Resümee: Die Digitalität ist zur völligen Selbstverständlichkeit geworden. Während wir dasitzen und reden, donnern Milliarden von Bits drahtlos um uns herum. Vieles von dieser Realität ist aber gleichzeitig noch nicht in den Köpfen angekommen, wenn wir etwa das Thema Überwachung betrachten . . .
. . . wie man etwa an den jüngsten Datenschutzdebatten um die Plattform Facebook sieht? Stocker: Ja, viele Benutzer glauben ja, das Internet sei ein öffentlicher Raum, nur weil man sich in einem sozialen Netzwerk einfach anmelden kann, so wie ich problemlos auf den Linzer Hauptplatz spazieren kann. Nur: Auf dem Hauptplatz gelten die Gesetze der Stadt Linz. Bei Facebook gibt es nur ein Gesetz: das der Company, die den Speicherplatz besitzt. Durch den immer rasanteren Technik-Fortschritt scheint auch die Zukunft immer schneller zu nahen. Hat sich am Selbstverständnis der Ars dadurch etwas geändert? Stocker: Eine Welle baut sich immer langsam auf, dann überschlägt sie sich. Diese Phase, wo plötzlich alles durcheinanderpurzelt, haben wir in den vergangenen zehn Jahren intensiv erlebt. Aber an der Grundidee der Ars Electronica ändert das nichts. Eine wichtige Aufgabe der Medienkunst, wie sie die Ars Electronica zeigt, bleibt es, Bilder, Geschichten und Symbole zu erschaffen, die uns helfen, das zu verstehen, was um uns passiert.
Kunst hat die Fähigkeit, zu übersetzen. Eduardo Kac, der Gewinner der Goldenen Nica, verbindet einen Teil seiner roten Blutkörperchen mit einer Blume so, dass das Genom genau in den roten Verästelungen auftaucht, die wie Adern ausschauen. Technisch kann das in einem Labor täglich passieren. Aber wenn der Künstler dieses Symbol findet und sich die Lebensader der Pflanze mit dem Lebenssaft des Menschen verbindet, wird das greifbarer, als wenn ich zehn Theorieaufsätze lese.Die Kunstkritik bemängelt manchmal den spielerischen Ansatz von Ars-Electronica-Werken. Stocker: Die Ars Electronica hat sich nie als Kunstfestival bezeichnet. Das Ars Electronica Center ist kein Kunstmuseum. Wir sehen uns vor allem als Bildungseinrichtung. Die Kunst hat hier eine Funktion. Mit den Kunstwerken ist es immer wieder gelungen, zu beschreiben, was in unserer Welt passiert.
1984 war beim Brucknerhaus ein Containerdorf aufgestellt. 20 Leute haben sich dort eine Woche verschanzt und nur über Fernsehen nach außen kommuniziert, um zu zeigen, was der Voyeurismus der Medien mit der Privatsphäre macht. Heute sagen wir „Big Brother“ dazu. Alles, was später bei „Big Brother“ groß debattiert wurde, hat diese Gruppe lang vorher schon ausprobiert. 1992 wurde das Projekt zur documenta eingeladen. Da war es dann plötzlich Kunst.Das neue, vergrößerte Ars Electronica Center ist seit Jänner in Betrieb. Wie zufrieden sind Sie? Stocker: Wir sind überwältigt. Die Startprobleme sind weitgehend ausgeräumt. Das neue Konzept, in dem auch die Naturwissenschaften, die „Life Sciences“, groß präsentiert sind, wird gut angenommen. Wir haben mit 100.000 Besuchern für 2009 gerechnet, jetzt stehen wir bei 170.000.Profitieren Sie von Linz09? Stocker: Genau wie alle anderen profitieren wir enorm. Es ist eine unheimliche Aufmerksamkeit, eine Mobilisierung vor allem des lokalen Publikums passiert. Wir hätten nie 170.000 Besucher, wenn es das Kulturhauptstadtjahr nicht gäbe. Wenn man den Leuten jetzt mit guten Angeboten gegenübertritt, nimmt man daraus auch Vorteile für die Zeit nach Linz09 mit. Ars Electronica: 2. 9. bis 8. 9. 2009; Internet: www.aec.at