Sprechende Steine

Den Originalbeitrag zu Günther Domenigs Nürnberger Umbau finden Sie in der architektur aktuell, Österreichs größter Architekturzeitschrift.


Keine hundert Jahre stand die Synagoge in Dresden. Als sie 1938 abgerissen wurde, war damit auch das architekturgeschichtliche Vergessen eines wichtigen Frühwerks von keinem Geringeren als Gottfried Semper besiegelt.

Neue Voraussetzungen

Nach der Shoa, den Bombardements und dem DDR-Kahlschlag unternahm die Dresdner Kultusgemeinde nun das Wagnis, ein neues Gemeindezentrum zu errichten. Der Zuzug zahlreicher russischer Juden ergab nun erstmals wieder die rein physische Notwendigkeit (eine moralische bestand schon vorher), einen Neubau zu errichten. 1997-98 fand schließlich der Wettbewerb statt den der Österreicher Heinz Tesar gewann. Die Saarbrückener Architekten Wandel Hoefer Lorch errangen den 3. Platz und den Auftrag. An der Stelle der zerstörten Semper-Synagoge errichteten sie eine klare und überzeugende Neuinterpretation eines jüdischen Sakralbaus und eines - davon abgesetzten - Gemeindezentrums.


Einschlägige Erfahrungen

Wandel Hoefer Lorch haben sich mit dem Memorial am Frankfurter Börneplatz (1994), beim Wettbewerb für die Mainzer Synagoge (2.Platz), mit einem Deportationsmemorial in Berlin (2000) und zuletzt beim Wettbewerb für das neue Münchner jüdische Gemeindezentrum (1.Platz) in Deutschland eine führende Position auf den heiklen Gebieten des Umgangs mit Memorials auf Naziverbrechen und der Synagogenarchitektur erarbeitet.

Nach Zvi Heckers Duisburger Gemeindezentrum ist so am anderen Ende Deutschlands eine völlig andere Lektüre des sensiblen Programms gelungen.

Gestaltungsfragen

Der zentrale Frage aller einschlägigen Überlegungen ist die Angemessenheit der Sprache, die man anwendet. Im jüdischen Sakralbau gibt es immerhin eine - wenn auch oft unterbrochene und äußerst heterogene - Tradition in Mitteleuropa. Seit den Judenverfolgungen des Spätmittelalters bis zu den Toleranzedikten und der Gewährung der Freizügigkeit innerhalb der europäischen Staaten (beides waren Folgen der Aufklärung und nicht zuletzt auch der Französischen Revolution) durften jüdische Sakralbauten im Stadtbild nicht in Erscheinung treten.

Als in Sachsen diese Rechte erteilt wurden, hatte der großzügige Stadtumbau, dessen Hauptregisseur Gottfried Semper war (bis zu seiner revolutionsbedingten Flucht 1848 war er hier Akademieprofessor und quasi Haupt-Staatsarchitekt) gerade begonnen und die Jüdische Gemeinde konnte am Ostrand der Brühlschen Terrasse ein Grundstück bebauen. An ihrem westlichen Ende stehen noch heute Sempers Hoftheater und Gemäldegalerie.

Schichtenlösung

Die wichtigsten Leistungen des Entwurfs des Saarbrückener Teams Wandel Hoefer Lorch (die übrigens alle in Darmstadt studiert haben) liegen zweifellos in der Interpretation von Ort und Ritus. Jeder Betrachter fragt natürlich als erstes nach den Motivationen hinter dem 34 Schichten hohen Formsteinmauerwerk, das eine Schraubenbewegung nach oben hin ausführt und so bis zu 1,80 Meter auskragt.

Die Architekten lassen die Lektüre dieser bemerkenswerten Form offen - von der städtebaulichen Notwendigkeit eines drehenden Punktbauwerks bis hin zur physischen und geistigen Bewegung der Gemeinde - oder auch bloße Unorthodoxie und Freude an geometrisch-mathematischen Varianten: Vieles ist möglich, alles beginnt aber beim Urbild des Jerusalemer Tempels, der wohl aus massiven Steinen gemauert war.

Gelungene Umsetzung

Der geschlossene Kubus zeichnet sich durch eine handwerklich betonte, aber reduktionistische Formensprache aus. Sie wird nicht nur gleichermaßen den liberalen und orthodoxen Strömungen innerhalb der Einheitsgemeinde gerecht, sondern ist auch Teil der Architekten-Konsequenz. Das Gemeindehaus am anderen Ende des schmalen Grundstücks bietet die üblichen Funktionen wie Versammlungsraum, Büros und Jugendräume, unter anderem auch einen schönen Dach-Freiluft-Raum. Rituell bedingte Sonderfunktionen wie die doppelte Küche waren auch in der Synagoge selbst vorzusehen. Das Gemeindehaus ist gegen die Stadt geschlossen und öffnet sich auf den Innenhof zur Synagoge.

Neben der Würde als Tempel und der Bedeutung nicht zuletzt auch als Element der Stadtrekonstruktion ist die Anlage vorbildlich in der Sprachwahl: Material und Form sind präzise reflektiert, klar, ohne kalt zu sein und in der richtigen Balance zwischen Statik und Bewegung. Diese Gemeinde kann wachsen.

Tipp:

Die jüngste Ausgabe von architektur aktuell, Österreichs größter Architekturzeitschrift, ist dem Thema memory gewidmet.

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