Salzburger Nachrichten am 19. Oktober 2005 - Bereich: Kultur
Weltkultursystem Fußball Künstler kicken den Ball
und die Fans und überhaupt alles, was mit Fußball zu tun hat: Eine
Ausstellung in Berlin gewährt ab Donnerstag Blicke in "Rundlederwelten".
BERNHARD FLIEHERBERLIN, SALZBURG (SN). Der Ball ist ein Video, ein
riesiges Foto und eine Installation. Das Spiel dauert 90 Minuten. Das
reicht aber nur Sportreportern. Wer im Fußball eine Weltkultur sieht,
deren Wirkung über Abseits, Elfer und Corner hinaus reicht, sollte sich
Zeit nehmen. In 90 Minuten ist die Ausstellung "Rundlederwelten" im
Martin-Gropius-Bau in Berlin nicht zu erledigen. 74 Künstler zeigen, was
vom Spiel auf dem Rasen, dem Jubel auf den Rängen und den guten Geschäften
in den Klubbüros für die Kunst übrig bleibt. Es ist viel, was Kuratorin Dorothea Strauss, Leiterin von "Haus
Konstruktiv" in Zürich, für diesen Teil des von André Heller gestalteten
Kulturprogramms zur Fußball-WM 2006 zusammengetragen hat. Wie der Fußball lebe auch die Kunst von Freiräumen, sagt Strauss. Das
ist freilich so banal wie werbewirksam. Und doch verweist es auf einen
Umstand, welcher der Kunst als Ausgangsbasis dient, dem Fußball aber gern
verweigert wird, weil die Kickerei ja doch "nur ein Spiel" sei. Fußball
lässt sich nämlich nicht nur als - in exakt gleicher Form niemals
wiederholbarer - "künstlerischer Schaffensprozess mit stets ungewissem
Ausgang beschreiben", wie Harald Irnberger in seinem neuen Buch "Die
Mannschaft ohne Eigenschaften" (Otto Müller Verlag) schreibt. Fußball sei
auch als "Spiegel gesellschaftlicher Prozesse und Tendenzen" zu sehen.
Hier gleicht Kicken der Kunst. Für viele Intellektuelle sei Fußball lange Zeit Tabu gewesen. "Ab den
70er Jahren ist Fußball Teil der Weltgesellschaft geworden", sagt Dorothea
Strauss. Die jüngsten Entwicklungen in dieser Gesellschaft aber bereiten
nicht nur Freude. Fans fürchten den Niedergang eines Kulturgutes, dessen
identitätsstiftende Komponente ausgelöscht werde, um einen vor allem ans
weltweite Fernsehen leicht verkäuflichen Luxusartikel zu schaffen. In Berlin stellt etwa die Arbeit der Türkin Esra Ersen die Frage nach
Identität vor dem Hintergrund von Nationalwahn und Globalität. In ihrer
Videoinstallation schneiden drei Frauen den schwarzen Streifen aus der
deutschen Fahne und nähen aus den goldgelb-roten Bahnen die Fahne von
Galatasaray Istanbul. In ihren schwarzen Kleidern legen sie sich dann
neben die neue Fahne - und die alte ist wieder da. Vor allem Fankultur und Starkult werden im Martin-Gropius-Bau
beleuchtet. Zu finden ist dort das schon während der EM 2004 in der Grazer
Ausstellung "Divine Heroes" zu sehende Video "Fusion" von Ingeborg
Lüscher. Sie lässt die Spieler von Grasshoppers Zürich und FC St. Gallen
in Anzügen gegen einander antreten. Ins Tor fliegen nie Bälle, sondern
Laptops oder Aktentaschen. Treffender wurden die Machtverhältnisse und das
neue Söldnertum auf dem globalen Spielfeld kaum in Frage
gestellt.Prominente Exponate, neue Entdeckungen Mit dem Sozialsystem
Fußball haben sich schon in den 20er Jahren Fernand Leger und Marcel
Duchamp beschäftigt. Über Andy Warhol bis Markus Lüpertz und Martin
Kippenberger reicht die Reihe der Namen, die in "Rundlederwelten" mit
bekannten Exponaten vertreten sind. Die Schau bietet aber auch manche
Entdeckung. Rituale auf und neben dem Platz werden aufgedeckt und gleichzeitig als
ironische Stilmittel eingesetzt. So erscheint das dritte Heft der
Fußballkulturzeitschrift "Anstoss" in einer Special Edition als Katalog
zur Ausstellung. Darin finden sich nicht nur kurze monografische Texte
über die Ausstellungsteilnehmer. Ein 48seitiges Glossar wirft skurrile
Streiflichter auf kultisch verehrte Anekdoten, sozio-kulturelle
Besonderheiten und ästhetische Details des Fußballs. In "Anstoss" finden
sich auch - in Anlehnung an eine ewige Tradition bei Fußball-Ereignissen -
Klebebilder der Künstler. Wer alle gesammelt hat, bringt beste Voraussetzungen mit, um sich im
Gropius-Bau im "Büro der Desinformation" auch gleich die WM zu ersparen.
Michael Staab bietet in seinem Projekt ein Trugspiel zwischen Wunsch und
Wirklichkeit. Die Spielergebnisse der WM kann man schon jetzt erfahren,
danach können die Tickets zu den Spielen erstanden werden. Weil kurz vor
Ausstellungsbeginn in Berlin der Prozess um die Bestechung von
Schiedsrichtern und geschobene Bundesliga-Spiele begann, wird gerade an
diesem Projekt deutlich, wie sehr Kunst und Fußball in die
Restgesellschaft hinausreichen.Bis 8. 1. 2006: www.rundlederwelten.net
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