Artikel aus profil Nr. 47/2002
Hodenhaltung

Matthew Barney, Superstar der US-Kunstszene, träumt in seinem gewaltigen „Cremaster“-Zyklus das Kino neu. Das Filmmuseum zeigt ihn nun erstmals integral.
Ein Schlagzeuger drischt auf sein Instrument ein, traktiert Blech und Batterie, den Puls gefährlich beschleunigend. Dabei ist der Mann ganz für sich, allein in einem leeren Raum: ein Berserker der Kunst, ein Solipsist des Klangs. Das wüste Stakkato seiner Darbietung bricht sich an der radikal kontrollierten Form des Bildes, das er abgibt. Der Arbeitsraum ist ein kahles Zimmer, das ein Studio sein könnte, aber auch eine Galerie, in der eine maschinell bewegte Kamera den einsamen Trommler umkreist und beäugt: eine lebende, lärmende Skulptur.

Die Szene stammt aus Matthew Barneys „Cremaster 2“ (1999), einem Film, der von vielem erzählt (von Amerika und dem Roadmovie, von dem Entfesselungskünstler Harry Houdini und dem Mörder Gary Gilmore, von Trauma, Tankstellen und Bienenschwärmen), dabei aber auch seltsam unzugänglich bleibt. Matthew Barneys beunruhigende Arbeit findet an der Schnittstelle zwischen Exzess und Kontrolle statt, am schmalen Grat zwischen Maßlosigkeit und Kalkül.

Der Star-Status des Künstlers, der, vielfach preisgekrönt, seit Mitte der neunziger Jahre in den bedeutendsten Museen der Welt ausgestellt hat, ist zu einem guten Teil (ähnlich wie bei Jeff Koons) auf seinen hohen Pop-Appeal zurückzuführen: Kunst und Privates – Barney ist Ex-Model, Ex-Athlet und derzeit mit dem isländischen Popstar Björk liiert – sind bei ihm nicht auseinander zu halten, das eine scheint das andere zu speisen, voranzutreiben.

Neobarock

Andererseits geht Barneys künstlerische Energie über die Simplizität des Pop weit hinaus. Der fünfteilige „Cremaster“-Zyklus des US-Künstlers, exakt 400 Minuten lang, ist ein Opus magnum, das nun erstmals komplett in Österreich zu sehen ist. Das Filmmuseum in Wien zeigt ab 18. November alle fünf Teile des Werks, das die New Yorker Galeristin Barbara Gladstone produziert hat, die übrigens auch die Filme der Künstlerin Shirin Neshat finanziert. Barney arbeitet an einer Form des Neobarock, einer produktiven Mutation des Kinos: Die „Cremaster“-Filme, entstanden zwischen 1994 und 2002, erzählen – praktisch ohne Worte – Geschichten, die so fremd sind, dass einem allein der Versuch, sie durchdringen zu wollen, den Atem raubt.

Barneys Visionen kreisen um Zeppeline und Fabelwesen, um geschmolzene Vaseline und synthetischen Sex, um Zombies, alternative Zahnchirurgie, vor allem aber: um die Kunst selbst. Die Vieldeutigkeit der Arbeit Matthew Barneys beginnt schon beim Problem ihrer Klassifikation: Ein bildender Künstler stellt, ausgehend von der Performance-Kunst und der Bildhauerei, bizarre, teure Videoarbeiten für den Museumsraum her. Sind das dann noch Filme? Nicht im herkömmlichen Sinn jedenfalls: Als Filmemacher, der die Anatomie und die Geologie als thematische Basis seiner Kunst bezeichnet, geht Barney zwangsläufig auf Distanz zum Unterhaltungskino seiner Zeit. „Als ich 1994 mit der Serie begonnen habe“, stellt er fest, „dachte ich besonders an die land art, wie sie etwa Robert Smithson praktiziert hat. Es ging mir darum, meine Arbeitsweisen auf bestimmte Landschaften zu übertragen, also Skulptur und Ort übereinander zu blenden.“

Dass Barney Medizin studiert hat, ist seiner Arbeit anzumerken: Der Begriff Cremaster bezeichnet jenen Muskel, der die Hoden hebt und senkt; auch die zahllosen anatomischen Allegorien, die Barneys Werk aktiviert, zeugen davon. Er selbst sieht die „Cremaster“-Arbeit als „eine Art sexuell getriebenes Verdauungssystem“. Barney generiert seine Filmfieberträume (er spricht von „interner Logik“) aus einer Reihe wissenschaftlicher und kultureller Hypothesen – und erprobt deren Gültigkeit an der eigenen Vorstellungswelt und am eigenen Körper. Die „Cremaster“-Serie handelt mit (und von) Mythologie, Autobiografie und Biologie.

Athletisch, ästhetisch

Die Schauplätze sind Barneys eigentliche Stars. „Cremaster 1–5“ lebt in und von: einem Football-Stadion in Idaho; der Linie der Rocky Mountains von Kanada bis zu den Salzebenen in Utah; dem New Yorker Chrysler Building; der Isle of Man und dem alten Gellert-Bad in Budapest. „Ich wollte immer einem Objekt oder der Architektur oder gar einer geologischen Formation eine Filmhauptrolle geben. Wenn man den Dingen und den Orten die Würde gibt, die man sonst nur Filmdarstellern zugesteht, dann können auch sie deren emotionale Qualität entwickeln. Das interessierte mich: das emotionale Gewicht von einer Situation statt von Schauspielern tragen zu lassen.“

Das Athletische und das Ästhetische greifen in „Cremaster“ ineinander. Als eine seiner stärksten Prägungen nennt Barney die Kameraarbeit der Football-Berichterstatter. „Ich habe früher selbst Football gespielt; so ist mir der visuelle Stil der NFL-Filme zur zweiten Natur geworden. Er definiert die Art, in der ich meine Figuren zeige: die Perspektiven der Kamera, den scheinbaren Entzug der Schwerkraft. Das ist ein sehr amerikanischer, sehr sentimentaler Stil, der vor allem dem Pathos des Athleten gilt.“

Die Frage, ob er „Cremaster“ lieber im Kino oder im Museum zeige, beantwortet Barney gewohnt zwiespältig: „Letztlich ergibt die Arbeit als Installation am meisten Sinn. Das ist näher an der ursprünglichen Idee. Ich sehe die Filme als Text, der Skulpturen produziert. Natürlich kann man diesen Text am besten in einem Kino studieren, wo man ihn von Anfang bis zum Ende sehen und in bester Tonqualität hören kann. Aber die Beziehung des Objekts zum bewegten Bild ist mir noch wichtiger.“

Hollywood ist allgegenwärtig in Barneys Werk, vor allem der (fehlbare) Glamour des alten US-Kinos: „Cremaster 1“, choreografiert nach Art des Filmemachers Busby Berkeley, stellt eine Beziehung zum Kino der dreißiger Jahre her, zu einem Kino der unnatürlichen Ordnung. „An den Berkeley-Musicals interessiert mich der Versuch, ein Bild perfekter Symmetrie zu entwerfen – und das natürliche Scheitern daran. Berkeley imitiert auch die Systeme des menschlichen Körpers, bezieht sich auch auf das Scheitern des Körpers an der Symmetrie. Darum geht es im ,Cremaster‘-Zyklus eigentlich: dass ein System ein Gleichgewicht herzustellen versucht, das es nicht erreichen kann.“

„Cremaster 1–5“: Filmmuseum, 18. bis 22.11. Info unter http://www.filmmuseum.at/ und Tel. 01/533 70 54.

Autor: Stefan Grissemann


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