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Traumsequenzen aus dem kollektiven Gedächtnis

05.08.2010 | 18:27 | EDITH SCHLOCKER (Die Presse)

Für Neo Rauch ist die Welt ein großes Theater: Die Münchner Pinakothek der Moderne zeigt 60 Bilder des deutschen Malerstars. Neo Rauchs Handschrift ist mit den Jahren narrativer, im besten Sinn malerischer geworden.

„Was ist so Neo am Rauch“, fragt sich der Besucher vielleicht noch beim Betreten der Schau, die – zeitgleich mit dem Museum der Moderne Leipzig – dem international gehypten Star der deutschen Malerei, Neo Rauch, eine große Personale widmet. Beim Verlassen der mit 60, teilweise noch nie öffentlich gezeigten Bildern bestückten Schau stellt sich diese Frage nicht mehr. So überwältigt ist selbst der Skeptiker von der Spielfreude des Leipzigers, von seiner Kunst, Neues mit Altem zu verbinden, Reales mit Erfundenem, Logisches mit Unlogischem, Privates mit Politischem. Er nutze den Fundus des Wissens des kollektiven Gedächtnisses beim Ermalen seines „Traumpersonals“, sagt Rauch, wobei er auch seine eigenen Wurzeln nicht verleugnet, die Verortung im sozialistischen Realismus genauso wie in der Kunst eines Tizian, Tintoretto und El Greco, aber auch in der von Beckmann, Bacon, Beuys oder Baselitz.

In seinem in einer ehemaligen Spinnerei eingerichteten Atelier ermalt sich Neo Rauch völlig intuitiv seine meist auf riesigen Formaten ausgebreitete Bildwelt. Die ihm, noch bevor sie trocken ist, aus den Händen gerissen wird, so gefragt sind am internationalen Kunstmarkt die Bilder des 50-jährigen Leipzigers, der hier nicht nur geboren wurde, sondern heute an der Hochschule für Grafik und Buchkunst seiner Heimatstadt, an der er einst selbst studiert hat, eine Klasse für Malerei leitet.

 

Surreales Kippen der Bedeutung

„Begleiter“ nennt Rauch die Schau: Sie vereint Arbeiten aus den vergangenen zwei Jahrzehnten, die bewusst nicht chronologisch, sondern laut Kurator Bernhart Schwenk nach „klimatischen Aspekten“ gehängt wurden. „Vorführung“ heißt das erste, 300 mal 420 Zentimeter große Bild, dem der Besucher gegenübersteht, und das in seiner allegorischen Aufgeladenheit, seinem surrealen Kippen der Bedeutungsebenen paradigmatisch für Rauchs Art ist, mit Farben, Formen, Zitaten und Assoziationen zu spielen. Mit einer Idylle, die sich sehr bald als vor pinkfarbenem Himmel zelebrierter Albtraum enttarnt. Bevölkert auf einer schiefen Ebene mit dem Personal eines schrägen Theaters, das als moralische Anstalt längst ausgespielt hat. Da kann selbst der Denker nichts daran ändern, der sich offenbar mit dem Teufel verbündet hat – und dessen aus seiner Hosentasche quellende Sprechblase nichts als heiße Luft enthält. Was Rauch mit solchen Bildern sagen will, bleibt offen. Aber gerade das voller Poesie vorgeführte Absurde fordert zum Knacken der Codes heraus, macht die Bilder zu Spiegelbildern einer verunsicherten Gesellschaft.

Jeder Raum der Münchner Schau trägt einen eigenen, sich auf ein konkretes Bild beziehenden Titel, jeder Raum zeigt eine neue Facette des sich trotz eines durchgehenden konzeptuellen Ansatzes immer wieder wandelnden Neo Rauch. Etwa in den drei Bildern „Übertage“, „Das Blaue“ und „Kalimuna“, von denen jedes anders getont ist, unzweideutig darauf verweisend, dass es hier nicht um die Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern um Traumwelten geht, die aber viel mit dem Realen zu tun haben – gemalt unter dem Einfluss eines „willkommenen Kontrollverlusts“, wie der Künstler sagt.

Neo Rauchs Handschrift ist mit den Jahren narrativer, figurativer, im besten Sinn malerischer geworden. Seine Bildräume ziehen in die Tiefe, ganz im Gegensatz zu seinen frühen, wesentlich abstrakteren, grafisch dominierten Arbeiten, als seine Figuren willenlos, Ausschneidepuppen gleich, von nur erahnbaren Mächten bewegt wurden. Der Suggestionskraft des Plakativen bedient sich Rauch dagegen in dem Gemälde „Wahl“ (1998), einem Vexierbild par excellence: Fiktion und Realität, Innen- und Außenwelt verfilzen hier zur Ansage eines janusköpfigen Mannes, offensichtlich eines Künstlers, der gerade mit dem Malen riesiger Spielfelder beschäftigt ist. Ob Rauch hier sein eigenes Selbstverständnis reflektiert, bleibt unbeantwortet.

Pinakothek der Moderne, München. Bis 15.August.


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