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06.09.2002 19:40

Die wahnsinnige Wahrheit
"Hommage an Antonin Artaud" im Museum Moderner Kunst

Mit ihrer "Hommage an Antonin Artaud" liefert Cathrin Pichler im Museum Moderner Kunst die bisher komplexeste Materialsammlung zum "Ernstfall". Und zeigt so eine seltene kuratorische Praxis jenseits ausgeklügelter Bedürfniserweckung.




Wien - Man kann davon ausgehen, dass Antonin Artaud sich weit im Jenseits der Schmerzgrenze seiner Zeitgenossen aufhielt. "Artaud ist der Ernstfall", schreibt Heiner Müller. Und: "Artaud, die Sprache der Qual. Schreiben aus der Erfahrung, dass die Meisterwerke Komplicen der Macht sind."

Artaud war weder Maler-noch Dichterfürst, nicht einmal Maler oder Dichter. Oder Schauspieler oder Regisseur - oder sonst wie entschuldbar. Sein galliger Atem hinterließ röchelnd Niederschläge, "erbärmliche" Auswürfe, notdürftigen Kitt, um aus seinem gleichermaßen fremd- wie selbsttätig zerstückelten Sein ein utopisches Ich im eigenen, nicht dem Sinn des Vaters zu erschaffen.

Uneitle Selbstreflexionen können aber nicht geduldet werden. Nur wer überzeugt von sich kündet, wird an die Tafeln geladen und durch fürstliche Entlohnung geadelt, um auch fortan dafür zu sorgen, dass die Macht nicht am inneren Feind zerbricht, der Fadesse.

Die Provokationen der bildenden und dichtenden Kollaborateure, die delikat aufwühlende Sittenbilder zum besten Preis abgeben - ihre "Meisterwerke" -, kokettieren bloß mit den schattseitigen Gegenden des Sozialraumes. Formvollendet bleiben sie aber stets im Rahmen. Und sind derart dann auch leicht ins exklusive Boudoir zu tragen - als Hilfsmittel, gefahrlos dem Voyeurismus zu frönen.

Artaud wusste, dass diese "Spiegel" keinen Deut mehr an schmutziger Wahrheit verraten als die selbstgefälligen Fratzen, die sich zurückwerfen lassen. Weil schon das Gesicht selbst noch unvollendet ist, "sein Gesicht noch nicht gefunden hat. (. . .) In den Tausenden Jahren, seit denen das menschliche Gesicht redet und atmet, hat man gleichsam noch immer den Eindruck, dass es noch nicht begonnen hat zu sagen, was es ist und was es weiß."

Dafür, sich notorisch im Diesseits eines Paktes aufzuhalten, den Minoritäten einer Gesellschaft vorgeblich gemeinwollend geschlossen haben, um Eliten so klein wie rein zu bewahren, gab es nur eine brauchbare Erklärung: Wahnsinn. Die "Diagnose" diente der Rechtfertigung der folgenden Methoden von Haltung und "Heilung": Anstalt und Elektroschock.

Cathrin Pichler und Hans Peter Litscher haben in jahrelanger Arbeit die bisher komplexeste Sammlung an Materialien von und zu Antonin Artaud zusammengetragen. Und wider die unterschiedlichsten Interessen an Werk und Mythos, dessen Geschichte sehr enthaltsam als Feld sich überlappender, bedingender und widersprechender Fragmente ausgebreitet. Jabornegg & Palffy haben das bei allen Sicherheitsauflagen Möglichste getan, Artaud intentionsgemäß unmittelbar und in allen Äußerungsformen gleichzeitig wirken zu lassen. Erstmals ist es gelungen, auch die "Cahiers", die Notizhefte, in denen Zeichnung und Text verschmilzt, und einige "magischen Botschaften" auszustellen. Bei Matthes & Seitz sind im Rahmen der Schau Materialien Über Antonin Artaud erschienen. Bernd Mattheus hat seine Artaud-Biografie erweitert und neu aufgelegt.

Dass Artaud als Ausstellung stattfindet, mag an Tabus rühren. Es mag die Gralshüter des Rätsels erschrecken, all jene, die sich ihn absichtsvoll angeeignet haben, um aus seinem Rotz einfältige Widerstandsfiguren, Vorläufer ihrer selbst zu zimmern. Und auch jene, die sich wichtig, als theatralische Geheimgesellschaft, im Besitz der Schlüssel zu verborgenen Codes gebärden.

Artaud war von sich selbst betroffen. Vom physischen Schmerz seiner Krankheiten, von der Deformation durch die Gesellschaft, die er als körperlichen Makel erlebte: "Ich sage, dass wir einen Fleck im Auge haben, da unser aktueller Augensinn deformiert wurde/ gehemmt, unterdrückt, verdreht und erstickt wurde durch bestimmte Manipulationen am Ursprung unserer Schädelkapsel,/ wie auch an der dentalen Architektur unseres Seins, vom Steißbein am Ende der Wirbel,/ bis zum Sitz der Geburtszange der das Gehirn haltenden Kiefer." (Markus Mittringer/DER STANDARD, Printausgabe vom 7./8. September)


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