Salzburger Nachrichten am 8. Mai 2006 - Bereich: Kultur
Ein Spektakel mit Gelitin

Die Gruppe von vier Künstlern namens Gelitin hat das Kunsthaus Bregenz mit neuer Kunst bestückt. Ihr Thema: "Chinese Synthese Leberkäse".

Hedwig KainbergerBregenz (SN). Eigentlich bräuchte sich niemand über die derzeitige Ausstellung im Kunsthaus Bregenz aufzuregen, der die Bilder sieht, die die Künstlergruppe Gelitin (früher Gelatin) im ersten Stock aufgehängt hat. Es sind zwölf Tafelbilder, nicht gemalt, sondern aus Plastilin geformt. Aus erdigen Farben wachsen bunte Köpfe, Zähne, Augen, phallusartige Gebilde sowie lustige, witzige und grauslige Gesichter.

Irgendwie wirken die Bilder so, als hätten spielende Kinder sie geformt. Doch tritt man zurück, wird eine Komposition von Farben, Formen erkennbar. Betrachtet man wieder Details, sind erstaunliche Formationen zu entdecken.

Wer allerdings aus dem Erdgeschoss in den ersten Stock hinaufgegangen ist, wird die Grundfarbe dieser Bilder nicht mehr "erdig" nennen. Für die Ausstellung ist die Eingangshalle zum "Kacksaal" umbenannt. In der Mitte ist eine filigrane Holzkonstruktion aufgebaut, die über eine etwa drei Meter hohe Stiege zu einem Klo führt, in dem mittels Spiegel und Licht Bilder vom hinteren Körperteil vor Augen gebracht werden, die vermutlich kein Besucher je zuvor gesehen hat.

Rundherum sind Fotocollagen von geformten Exkrementen. Wie ekelig! Es ist, als röche man, was man sieht, aber nein, nichts ist zu riechen. Angewidert, aber doch irgendwie angetan von dieser Spielerei sind Buchstaben erst beim zweiten Hinschauen wahrzunehmen: Etwa: "ich bin ein gesicht" oder "weil du mich willst".

Das sorgt in Vorarlberg für Aufregung und für empörte Leserbriefe in Zeitungen. Allerdings: Wenn dem Kunsthaus vorgeworfen werde, dass hier "Scheiße gezeigt und in Scheiße gewühlt" werde, so sei dies nicht richtig, sagte Eckhard Schneider, Direktor des Kunsthauses, am Samstag in einem Symposium. Nirgends sei "reales Material", in Wahrheit sei alles nur Abbildung.

Gelitin - eine Gruppe von vier Männern - hatte 2003 für Salzburg den "Arc de triomphe" (im Volksmund: "Penismann") geschaffen, der wegen Protesten kurz nach Enthüllung von der Feuerwehr eingehaust wurde. Mittlerweile werden Werke von Gelitin im Centre Pompidou in Paris und im Oberen Belvedere in Wien gezeigt. Im Kunsthaus Bregenz hat Gelitin alle vier Stockwerke bestückt; die Ausstellung "Chinese Synthese Leberkäse" wurde Mitte April eröffnet (bis 28. Mai). Im 3. Stock wird ein nicht jugendfreier Film gezeigt, auf die 4. Etage ist schwarzer Moorschlamm geschüttet, durch den Besucher bis vor ein paar Tagen waten durften.

Für das Symposium am Samstag reisten Künstler wie Franz West aus Wien an, Melissa Logan aus München (von "Chicks on Speed"), Cerith Wyn Evans aus London (u. a. vertreten bei der Tate Triennale 2006) und Paola Pivi (Mitwirkende am Salzburger Festival "Kontracom"). Zudem kamen Kuratoren und Direktoren aus Paris, New York, Deutschland und der Schweiz. Allerdings: Kritiker von Gelitin und der Ausstellung waren fern geblieben. Muss man vermuten, dass Gegner dieser Kunst über Polemik nicht hinauskommen?

Eine Kunst wie jene von Gelitin habe ihre Wurzeln im Dadaismus, erläuterte Eckhard Schneider. Diese Bewegung, 1916 von Zürich ausgegangen, sei für die Kunst "der größte Sprengsatz" gewesen, den man im 20. Jahrhundert habe zünden können. Sie sei aus Protest gegen erstarrtes Bürgertum, erstarrte Kultur, auch gegen die Schrecken des Ersten Weltkriegs entstanden. Der Dadaismus habe andere Kunst (Surrealismus, Kubismus, Marcel Duchamp oder Wiener Aktionismus) befruchtet. Sprache, Abfall, Inszenierung, Collage - all dies hätten Dadaisten erstmals verwendet.

Auch der Hamburger Kunstsammler Harald Falckenberg erinnerte an den Wandel der Kunst- und Geistesgeschichte an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, etwa an Sigmund Freud und dessen Erkenntnis, dass das Ich nicht mehr Herr im eigenen Haus sei und dass das Biologische den Geist kontrolliere. Und damals hätten Künstler das Ideal des "Schönen, Wahren und Guten" in Frage gestellt und Scheiße als ausdrucksstarkes Gegenstück zum Schönen gesehen.

In einem der vier Podiumsgespräche wurde die Verwandtschaft der Werke von Gelitin mit dem Dionysischen des alten Griechenlands und des Barocks dargestellt, zu dem Rausch, Exzess, Körperlichkeit, Erotik und Humor gehören.

Gelitin dringen in Bereiche von Körperlichkeit vor, die verboten und gefährlich sein können und heute - wie vor 100 Jahren - tabuisiert sind. Ihre Werke sind obszön, da sie thematisieren, was normalerweise im Verborgenen (abseits der Szene) passiert. Daher können sie erschrecken und verstören. Doch sie öffnen die Kulissen nicht gewalttätig oder verhöhnend, sondern behutsam.

Was das bewirkt? Die Teilnehmer der etwa achtstündigen Diskussionen fanden Worte wie: "ein neues Gefühl von Körperlichkeit", "eine erstaunliche Insel, wo alles, was passiert, schön ist", "sexuelle Befreiung", "Befreiung von Dingen, die uns unterdrücken", "Erfahrung von Unmittelbarkeit", "Darstellung unkontrollierbarer Orte" und "eindrückliche Bilder, die bleiben, weil Schauen mit Fühlen zu tun hat".