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derStandard.at | Kultur | Bildende Kunst 
28. Mai 2005
10:14 MESZ
Von Anne Katrin Feßler

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bawag-foundation.at

Bis 25.6.  

Foto: REUTERS/Toby Melville
Jeremy Deller

Foto: Bawag Foundation
Aus dem Re-Enactment der 'Battle of Orgreave' (2001)

Spartakus in der Schlacht
Turner-Preisträger Jeremy Deller reflektiert in der Bawag Foundation die britische Arbeitergeschichte

Turner-Preisträger Jeremy Deller reflektiert die britische Arbeitergeschichte: In der Bawag Foundation Wien ist unter anderem seine Dokumentation über die Bergarbeiterstreiks von 1984 zu sehen.


Wien - "Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Und bei so einem Streik war es mit der Wahrheit schnell vorbei." Angesichts einer Arbeitsniederlegung mutet dieser Vergleich eines ehemaligen englischen Minenarbeiters herb an. Doch der Streik von 1984 gebärdete sich – als Reaktion auf die Schließung von 20 Kohlegruben im Norden Englands – tatsächlich wenig zimperlich.

In der "Schlacht von Orgreave" spitzte sich der Konflikt zwischen streikenden Kumpels und Polizei zu. Bilanz: zwei Tote, 80 Verletzte. Es verwundert daher nicht weiter, dass auch die "Eiserne Lady" Margaret Thatcher damals zu kriegerischem Vokabular griff. Sie dämonisierte die streikenden Kumpels als "innere Feinde" und setzte sie sogar mit Terroristen gleich.

Die Ereignisse stellen für den damals 18-jährigen Jeremy Deller, Turner-Preisträger 2004 und nun in der Bawag Foundation in Wien zu Gast, ein Schlüsselerlebnis dar: "Ich erkannte, dass in unserem Land etwas faul war." 17 Jahre später setzte er die Idee, das fast in Vergessenheit Geratene "nachzuspielen", mit der Organisation Artangel und großzügigem Budget der BBC (Channel 4) in die Realität um. Deller griff auf die in England populäre Tradition des Re-Enactments zurück, bei der Gruppen sonst Römer- oder Bürgerkriegsschlachten nachstellen. Die daraus entstandene TV-Dokumentation ist nur ein Teil der Ausstellung An injury to one is an injury to all (einem globalen Slogan der Arbeiterbewegung), zu der das 60-jährige Bestehens des Österreichischen Gewerkschaftsbundes Anlass gab.

Deller gewann neben erprobten Re-Enactment-Darstellern auch Streikveteranen für sein Projekt. Dass sogar ehemalige Streikbrecher Rollen übernahmen, sorgte allerdings für Aggressionen. "Wir machen sie fertig", grölen Schlachtenbummler, denen es in raren Momenten fast zu realistisch zugeht, um im nächsten Augenblick mit dem Ruf "Ich bin Spartakus" durchs Bild zu hüpfen. Andere aber wühlt das Szenario vor typisch englischer Reihenhauskulisse ehrlich auf. Historische Substanz bekommt die Doku durch eingeflochtene Interviews mit Polizisten, Gewerkschaftern und Arbeitern.

Auch Dellers Musikprojekt Acid Brass (1997), zweiter Schwerpunkt der Schau, reflektiert englische Arbeitergeschichte. Britische Blasmusikensembles entwickelten sich aus den traditionellen Werkskapellen der Kohlegruben und sind bis heute weit verbreitet. Eine der berühmtesten, die Williams Fairey Brass Band, bat Deller, Acid-House-Klassiker der späten 80er-Jahre nachzuspielen. Ergebnisse dieses musikalischen Unterfangens tönten bereits 1998 vor dem Wiener Rathaus. Nicht etwa Experimentierfreude, sondern Dellers bei Lenin entlehntes Prinzip, dass alles mit allem verbunden gedacht werden muss, gab den Anstoß, geografische wie geschichtliche Verknüpfungen von Acid-House- und Brass- Band-Bewegung darzustellen.

Offiziell wird heute noch das Schließen der Zechen in Yorkshire mit Überproduktion und Ineffizienz argumentiert. Deller relativiert: Bereits 1979 existierten geheime Pläne, den lästigen Feind "Bergarbeitergewerkschaft" zu zerschlagen ...
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 28./29.5.2005)


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