diepresse.com
zurück | drucken

22.06.2005 - Kultur&Medien / Ausstellung
Anarcho-Kapitalist mit Herz
VON ALMUTH SPIEGLER
Ausstellung. Das MAK startet seine "Factory"-Serie mit Atelier van Lieshout.

F
reiheitsliebende Niederlande. Schon im Mittelalter, als der Absolutismus noch fröhliche Urständ feierte, kämpfte man sich hier 1581 frei von den Spaniern und rief die Republik aus. Von Haschisch bis Sterbehilfe ist hier noch bis heute mehr erlaubt als anderswo. Die Touristen-Idylle aus Tulpen, Fahrrädern und Multikulti bekam ihren Dämpfer spätestens mit dem brutalen Mord am Islam-kritischen Filmregisseur Theo van Gogh vergangenen November in Amsterdam.

Tolerante Niederlande? An deren Grenzen stieß vor vier Jahren auch der 1963 geborene Künstler Joep van Lieshout. Nach nur einem Jahr musste er aus seinem Traum eines autarken Freistaats am Rotterdamer Hafen wieder aufwachen. Seine Utopie aus mobilen Wohneinheiten, Kompost-Toiletten, Biogas-Anlage, Bio-Bauernhof, eigener Währung, Verfassung, Flagge und Brauerei wurde "zu populär", die Beamten der Stadt bekamen Wind davon. Und wenn EU-Richtlinien drohen und kein Alkohol mehr verkauft werden darf, dann macht so ein Freistaat ja auch keinen Spaß mehr. Das nach seinem Kunst-Produktionsunternehmen "Atelier van Lieshout" benannte "AVL Ville" wurde von ihm offiziell für tot erklärt.

Es blieben die Werkstätten, in denen bis zu 30 Mitarbeiter an seinen schrägen Objekten zwischen Kunst, Design, Architektur basteln - und eine supertolle Lebenserfahrung, die natürlich gleich in Kunst übersetzt werden musste. Was bei dem charmanten Zyniker Joep van Lieshout mit derart viel ironischer Übertreibung, Häme und Detail-Liebe passiert, dass man ihm dafür einfach nicht böse sein kann. Entwarf er also bisher Freiheits-Modelle, begann er jetzt mit makabrer Fantasie, am Gegenteil zu bauen. Systeme der Unterdrückung, Ausbeutung, Anonymität wurden entworfen - und Museen wie Kunstmarkt jubelten.

Vor einem Jahr bekam AVL in Hannover den Kurt-Schwitters-Preis, ab heute zeigt das MAK zwei der neuesten Großinstallationen des ausgebildeten Bildhauers - den "Technokraten" und den "Disziplinator". Letzterer ist ein begehbares, 18 Meter langes Käfig-Modul, in dem 72 "Insassen" im Akkord Baumstämme zu Sägemehl feilen könnten. Ein effizienter Parcours aus Schlafkojen, Abspeisung, Arbeitsplatz, Nasszellen steht zur - fiktiven - Verfügung.

Ähnlich utopisch der "Technokrat", eine sich durch die MAK-Hallen windende mehrteilige Apparatur aus farbenfrohen Kesseln und Schläuchen, die aus Fäkalien Biogas erzeugen soll. Klingt harmlos? Dann gehen wir es einmal durch: In einer mehrlagigen Stellage werden "1000 Bürger" gehalten, automatisch ernährt und wieder "ausgepumpt". Dieser menschliche Reaktor liefert Gas, Wasser und Kompost, betreibt wiederum die Fütterungsanlage und - damit die gute Laune nicht völlig verloren geht - den "Alkoholator". Ein boshafter autarker Kreislauf, der in seiner Einspannung des Menschen ein wenig an die Horrorvision von "Matrix" erinnert. Den Betrieb dieser Arbeitslager gestattet sich van Lieshout aber dann doch nur in seinen Aquarellen, konterkarierend naive Gebrauchsanweisungen. Menschen kommen bei ihm nur als stilisierte Puppen vor, die achtlos am Boden liegen.

"Es gibt keine Freiheit mehr", postuliert der Künstler dazu. Und irgendwie beginnt man dabei um ihn zu bangen, denn Kunst, sagt er, sei für ihn etwas sehr Persönliches. Seine Arbeit spiegelt auch sein Seelenleben wider, als Oberhaupt eines Betriebs, verantwortlich für Arbeitsplätze. Sprach der Künstler einst von der individuellen Freiheit, fertigte drollige Riesen-Penisse und Gebärmutter-Häuser, geht es dem Manager jetzt auch um Budget, Effizienz und Finanzpläne. "Anarcho-Kapitalist" hat ihn einmal jemand genannt - und das gefiel ihm sehr gut. Diese Bezeichnung führt er mit seinem nächsten Projekt "Call Center" in ein neues bizarres Extrem: 200.000 Teilnehmer sollen auf 6000 Hektar u. a. durch Telemarketing einen Nettogewinn von 3,5 Milliarden Euro erwirtschaften. Bleibt zu hoffen, dass dann wenigstens dort seine von der jüngsten Kunstmesse in Basel bekannte, äußerst naturgetreue Polyester-"Arsch-Bar" Station macht und für den nötigen Antrieb sorgt.

© diepresse.com | Wien