Die andere Seite des Tabus

Skandale gibt es in allen gesellschaftlichen Bereichen. Aber fast, scheint es, wäre die Kunst für Aufregung und Erregung prädestiniert. Ein neues Buch gibt Auskunft. Von Gerhard Pretting und Roland Schöny.


Aus dem Kulturbetrieb lässt sich das Entstehen von Skandalen kaum wegdenken. Doch nicht immer sind es die Autoren, Regisseure oder Künstler selbst, die dafür verantwortlich sind. Sehr oft gehört auch eine empörte Öffentlichkeit dazu, die wiederum in den Medien dankbare Mitspieler findet. Man denke nur an die Premiere von Thomas Bernhards Stück Heldenplatz vor mehr als einem Jahrzehnt, das Reaktionen zur Folge hatte, die Bernhard selbst sich wahrscheinlich kaum vorstellen konnte.

Skandal, Tabu, Interesse

Das Sprechen über den Skandal in der Kunst ist auch immer ein Sprechen über die Tabus einer Gesellschaft, sagt die Kunsthistorikerin Sabine Schaschl. Der Skandal: Das ist das Böse, das Ärgernis, die Provokation. Im Alt-Griechischen ist von "Skandalon", vom Anstoß, die Rede, in der Bibel von der Versuchung, die den Menschen zum Bösen treibt. Der Begriff Skandal scheint bemerkenswerterweise kaum eine Inflation zu erleiden. Stets verbindet man damit etwas außerhalb der Norm Stehendes. Und stets ruft allein schon das Wort Skandal ein gewisses Interesse hervor.

Egal ob es sich um einen Korruptionsskandal in der Politik, um einen Theater- oder um einen Kunst-Skandal handelt, früher oder später geraten die damit verbundenen Ereignisse in die mediale Berichterstattung, wodurch eine ganz eigene, mitunter unabsehbare Dynamik entsteht. Skandale haben somit eine Struktur, das ist eine der Thesen im Buch "skandal: kunst" - und trotzdem lassen sie sich nicht berechnen. Der kalkulierte Skandal ist nur in den seltensten Fällen möglich, meint Sabine Schaschl.

Die Ausnahmen zur Regel

Als sich etwa Adolf Frohner, Hermann Nitsch und Otto Mühl in Rahmen der Aktion "Die Blutorgel" 1962 in Wien in einem Keller im 20. Bezirk einmauern ließen, wurde bereits im Vorfeld diskutiert, wie weit diese Aufsehen erregende Idee zu einem Skandal führen könnte. Allein schon der Titel "Die Blutorgel" führte zu wüstesten Spekulationen.

Solche Ereignisse jedoch zählen zu den Ausnahmen, ähnlich wie auch die Aktion "Kunst und Revolution" im Hörsaal 1 der Universität Wien 1968, die in den Diskussionen um die österreichische Nachkriegsgeschichte eine entscheidende Bedeutung hat. Nachhaltige Wirkung jedoch haben Skandale eher selten, konstatiert Ko-Autor Peter Zimmermann.

Geschichtensammlung

Das Buch von Peter Zimmermann und Sabine Schaschl nähert sich dem Skandal auf phänomenologischem Weg. Die Aufzählung ist und kann natürlich keineswegs komplett sein, aber jeder behandelte Skandal beschreibt die unterschiedlichen Facetten von Kunst und Gesellschaft. Neben den üblichen Verdächtigen wie Hermann Nitsch und Otto Mühl finden sich auch Erregungen, die über das enge Feld der Kunst hinaus nur wenig bekannt sein dürften.

Diego Rivera
Diego Rivera
Wissenswertes über die unmoralischen Praktiken amerikanischer Kunsthändler im Zusammenhang mit den Werken von Mark Rothko wird hier ebenso erzählt, wie die unglaubliche Geschichte von Diego Rivera, der zu Beginn der 30er Jahre mitten im Herzen des Kapitalismus, im Rockefeller Center in Manhatten, ein Wandfresko fertigte, auf dem er Marx, Lenin und die Arbeiterschaft verherrlichte. Nach langem Hin und Her wurde Rivera ausbezahlt und das fast fertige Bild von der Wand geschlagen.

Kunst auf Leben und Tod

Ausführlich ist auch ein Beitrag über das amerikanische Künstlerpaar Ed und Nancy Kienholz. Die beiden errichteten 1974 in Berlin eine Installation mit dem Titel "Still Life". Ein nachgebautes kleinbürgerliches Wohnzimmer mit einer Schussanlage. Per Zufallsschaltung hätte es durchaus passieren können, dass Kunstinteressierte, die sich auf dieses Spiel einließen, erschossen werden hätten können.

In diesem inszenierten Duell auf Leben und Tod ging es jedoch um einen Hinweis darauf, was in der echten Wirklichkeit außerhalb der Kunst auch passieren könnte. Letztlich trat das Künstlerpaar Kienholz damit für Achtung gegenüber dem Leben ein. Aber das Werk geriet zu einem Skandal, der sogar die diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und der BRD berührte. Eine Wirkung also, die kaum absehbar war und politische Debatten zur Folge hatte.

Sensationslust

Anders ist der Fall der Ausstellung Sensation, die von der Werbeagentur "Saatchi & Saatchi" finanziert und mitproduziert wurde.

Letztlich stellte sich heraus, dass der Kunstsammler Charles Saatchi die Arbeiten junger Künstler ganz bewusst eingesetzt hatte, um diese zu promoten. Auf dem internationalen Markt stieg deren Bedeutung und letztlich deren Verkaufswert.

In New York dagegen, als "Sensation§ ein zweites Mal gezeigt wurde und Bürgermeister Rudolph Guliani versuchte, die Ausstellung zu verbieten, waren der damit verbundene Skandal und die anschließenden Diskussionen eher eine Aussage über die Moralvorstellungen in der amerikanischen Gesellschaft.

Somit lassen sich vor allem zwei Schlussfolgerungen ziehen: Zum einen wurde der Skandal in der Kunst des 20. Jahrhunderts zunächst eher durch formale Neuerungen ausgelöst, später jedoch lassen sich Skandale zunehmend vor der Folie sozialer und politischer Hintergründe lesen.

Win-Win-Situation

Der Skandal ist ein Spiel, bei dem es nur Gewinner gibt. Der von Presse und Politik angefeindete Künstler kann damit rechnen, dass sich alle anderen Künstler mit ihm solidarisieren und dass kein Ausstellungsmacher ihn fürderhin ignorieren kann. Die Medien dürfen sich über erhöhte Auflagen und Quoten freuen und die Mediennutzer über den wohligen Schauer der Empörung und der Selbstgerechtigkeit. Denn bei Kunst ist es wie beim Fußball. Jeder glaubt mitreden zu können und ist überzeugt, Experte zu sein. Aber, so Karriere fördernd ein Skandal in der Kunst auch sein mag, so selten komme es vor, dass die Künstler bewusst auf einen solchen hinarbeiten würden, betont Sabine Schaschl.

Jedenfalls, einen Künstler, der gerade skandalisiert wird, muss man nicht bemitleiden. Denn erstens steigt sein Marktwert und zweitens, das lehrt die Geschichte, haben Skandale eine kurze Dauer, so Peter Zimmermann: "Die Kunst ist weitaus zäher als der Skandal und die Aufregung, die um ein Kunstwerk oder eine Ausstellung herrscht."

Tipp:

Sabine Schaschl, Peter Zimmermann: Skandal: Kunst. Berlin 2000. Springer ISBN: 3-211-83418-4, 416 Schilling.

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