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Blut und Honig im Tanzquartier: Intensive Lebenszeichen vom Balkan

Grenzüberschreitend im weitesten Sinn präsentiert sich diese Woche wieder einmal das Tanzquartier Wien.

Wien (APA) - Der Schweizer Harald Szeemann, Ex-Biennale-Leiter von Venedig und Kurator der aktuellen Balkan-Schau "Blut & Honig" in der Sammlung Essl, erhielt "Carte Blanche" für eine Performance-Reihe. Noch heute, Samstag, Abend sind vier Arbeiten aus Albanien, Moldawien, Kroatien und der Türkei zu sehen. Morgen, Sonntag, werden in der Sammlung Essl zum Abschluss der Ausstellung Gespräche mit beteiligten Künstlern präsentiert.

Den Auftakt der Performance-Reihe machte am Mittwoch der Labin Art Express (L.A.E.), eine 1991 von Dean Zahtila und Kresimir Farkas (1956-1999) ins Leben gerufene Underground-Organisation für Kunst und Kultur aus Labin in Kroatien. Das Kollektiv ist u.a. für den ersten unabhängigen Radiosender Kroatiens verantwortlich und gründete 1998 ein multifunktionelles Kulturzentrum. Zu seinen Projekten gehören die Umgestaltung des dortigen Kohlebergwerkgebietes in eine vom L.A.E. zu verwaltende autonome unterirdische Stadt mit Bars, Läden, Galerien, Polizei und Bürgermeister sowie die Konzeption und Geburt eines Kind-Gott-Künstlers als Held des 21. Jahrhunderts. Im Tanzquartier machte der Art Express Station mit einer 40-minütigen energiegeladenen Performance über historische Frauengestalten des Balkan, mit integrierten Textzitaten (u.a. von Hegel und Engels), Video und Heavy Metal Music, deren symbolträchtige Gothic Ästhetik allerdings oft platt und schwülstig wirkt.

Während dieser erste Teil der Reihe nur einmal zu sehen war, wird das Programm von Freitag Abend mit vier sehr unterschiedlichen Arbeiten aus Albanien, Moldawien, Kroatien und der Türkei heute, Samstag, wiederholt: An die Aktion "Balkan Baroque" der serbischen Künstlerin Marina Abramovic, die 1997 auf der Biennale von Venedig einen Berg von Rinderknochen mit einer Wurzelbürste zu säubern versuchte, mag man sich bei der Performance "Family Trend" von Flutura & Besnik Haxhillari (Les deux Gullivers) aus Albanien erinnert fühlen: Das Paar sitzt nackt an einem von rohem Fleisch bedeckten Tisch, hinter einer Fotoprojektion, die die beiden abbildet, und stopft durch die projizierten Münder die Fleischstücke, die auf der anderen Seite der Leinwand erbrochen zu werden scheinen. Die Wiener Performerin Barbara Kraus spricht dazu einen deutschen Text über den Mund als Wunde.

Der moldawische documenta-11-Künstler Pavel Braila erfüllt sich mit der im Tanzquartier uraufgeführten witzigen Arbeit "The Music Box" endlich seinen Traum von einer eigenen Musikperformance. Er tritt als ins Publikum zielender Boxer in einem "Love"-T-shirt und Jeans mit Lauflicht-Seitenstreifen vor einer Papierschablonen-Band auf, zu fremdsprachigen Versionen von Hits etwa der Doors ("People are strange") und Modern Talking ("Cherry Lady"). Eher makaber hingegen ist der Auftritt der mittlerweile 93-jährigen türkischen Operndiva Semiha Berksoy, die gern die Dramen ihres Lebens mit den Charakteren berühmter Opernfiguren vermischt, als Richard Strauss' Salome - ihr auf ein Haltegestell gestützter "Tanz der sieben Schleier" wohl eher etwas für Freunde nekrophilen Humors.

Die interessanteste Arbeit ist der "Body Film Essay: Stars and Soldiers / She Wore a Yellow Ribbon" über Filme von Miklos Jancso und John Ford, von Aleksandar Battista Ilic, Ivana Keser und Tomislav Gotovac (Weekend Art) aus Kroatien. Vor einer Leinwand mit Ausschnitten aus Fords Western und Jancsos Kriegsfilm geben einander ein junger und ein alter Mann und eine junge Frau in offenbar wechselnden Macht- und Hierarchieverhältnissen Anweisungen für Bewegungen. Die konzentrierte Performance stellt subtil Beziehungen zwischen Live-Geschehen, Film und historischer Realität her und schafft eine beklemmende, berührende Spannung.

Die Ausstellung "Blut & Honig - Zukunft ist am Balkan" läuft noch bis Sonntag (28.9.) Zum Abschluss der Schau werden um 17 Uhr Videos von Interviews präsentiert, die Szeemann und der Theoretiker Alexsander Kiossev mit zehn der beteiligten KünstlerInnen geführt haben. Im Anschluss findet ein Gespräch mit den anwesenden KünstlerInnen statt.

2003-09-27 14:36:37