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Kunstberichte
Die Kunsthalle Wien beleuchtet in der Ausstellung "Tropicália" die brasilianische Kunst der 60er Jahre

Die Kunst riechen und schmecken

Brasiliens Kunst zeigt die Zähne statt der zu erwartenden Folklore. Vor allem avantgardistische Ansagen bietet die brasilianische Kunst der sechziger Jahre. Auf unserem Bild zu sehen: Ein Still aus "In-Out (Athropophagy)" von Anna Maria Maiolino. Foto: Anna Maria Maiolino

Brasiliens Kunst zeigt die Zähne statt der zu erwartenden Folklore. Vor allem avantgardistische Ansagen bietet die brasilianische Kunst der sechziger Jahre. Auf unserem Bild zu sehen: Ein Still aus "In-Out (Athropophagy)" von Anna Maria Maiolino. Foto: Anna Maria Maiolino

Von Brigitte Borchhardt-Birbaumer

Aufzählung In der Ausstellungsschiene der Kunsthalle, die außereuropäische und von der angelsächsischen Dominanz freie Kunstphänomene hervorhebt, wird nach Indien, Mexiko und Afrika mit "Tropicália" das Brasilien der sechziger Jahre beleuchtet.

Diese Bewegung kam aus dem hochästhetischen Neokonstruktivismus und der konkreten Poesie der fünfziger Jahre und reflektierte auf ein dadaistisches Manifest aus den zwanziger Jahren. Sie richtete sich mit subversiver Ironie gegen Brasiliens Diktatur, elitäre Hochkultur, aber auch den festgefahrenen Marxismus und agierte mittels Populärkultur. Mit einem Auftritt im Fernsehen fand die Bewegung 1968 ein jähes Ende: Die Künstler hatten in einer Diskussion ein Banner des Bildhauers Hélio Oiticicas gehisst. Auf dem sieht man unter einem von Polizisten getöteten Gangster die Aufforderung: "Sei ein Ausgegrenzter, sei ein Held." Darauf wurden die Protagonisten verhaftet und mussten, wie der Musiker Gilberti Gil, späterer Kulturminister Brasiliens, das Land bis 1985 verlassen.

Wie im Aktionismus waren ephemere Experimente und damit Film, Foto, Performance wichtig. Die Antikunst-Installation "Tropicália" von Oiticica, die Pseudofavelas samt Papageienkäfig neben Sand und Blumentöpfen zeigte, gab der kurzen, aber nachhaltig wirksamen Kunstrichtung ihren Namen. Ironisch und doch sozialkritisch sind die Arbeiten bis heute voller Sinnesreize. In "Rad der Freude" der 2004 verstorbenen Künstlerin Lygia Pape kann man Farbe aus Schüsseln kosten, Jungstar Ernesto Neto lässt seine bewegliche Skulptur "Der Himmel ist die Anatomie meines Körpers" von 2000 nach Nelkengewürz riechen.

Von kinetischen Objekten kam Lygia Clark zum Feminismus und nicht weniger interessant ist Anna Maria Maiolino oder der "Cinema Nova"-Vertreter Glauber Rocha.

Hippiebewegung und tropischer Barock

Für Kurator Thomas Mießgang ist die Hippiebewegung dem "surrealen tropischen Barock" ähnlich. Manches erinnert an die Wiener Aktionisten wie die grausam barocke Vorliebe Artur Barrios für Einge-

weide. Ihn beflügelte aber nicht Nitsch, sondern die kannibalische Metapher

des Dichters Oswald de Andrade.

Dem Verschlingen fremder Kulturen durch die sogenannte "Erste Welt" werden jedenfalls hybride Konzepte eigenständiger Musik, Performance und auch ein isolierter "Ché, alone" von Rubens Gerchman entgegengesetzt. In Brasilien siegen die Ameisen im Film "Epilogue" der jungen

Rivane Neuenschwandner von 2006 – sie tragen

Konfetti zu Sambatönen in ihr Nest.

Aufzählung Ausstellung

Tropicália: Die 60er in Brasilien
Thomas Mießgang (Kurator)
Kunsthalle
Zu sehen bis 2. Mai

Printausgabe vom Donnerstag, 28. Jänner 2010
Online seit: Mittwoch, 27. Jänner 2010 20:54:00

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