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20.02.2006 - Kultur&Medien / Kultur News
Tanzende Frauen, stampfende Lokomotiven
VON BARBARA ZEMAN
Kunstgeschichte. Im frühen 20. Jahrhundert entstand in Wien eine später vergessene Stilrichtung: Kinetismus.

M
y Ullmann ging 1926 daran, zwei mit Papier bezogene quadrati sche Rahmen in Gouache-Tech nik zu bemalen. Sie grundierte in Gold, setzte einen graugezackten Löwen ganz unten hin, platzierte in der Mitte einen orange-braunen Stier, daneben vier Gestalten, die dem Feuer entsteigen und über ihren Köpfen einen Adler entfliegen sehen. Gemalt hatte Ullmann "Die vier Evangelisten" in der Fichtegasse, in einer der damaligen Exposituren der Kunstgewerbeschule, die heute Universität für angewandte Kunst heißt. Die Außenstelle gibt es nicht mehr, dafür eine in der Postgasse, dort hängt seit zehn Jahren Ullmanns Bild. Die Salzburgerin Ulrike Matzer, die die Schule erforscht, der Ullmanns "Evangelisten" angehören, trifft man hier noch nicht so lange an.

"Der Wiener Kinetismus ist eine der bedeutendsten Kunstrichtungen Österreichs im frühen 20. Jahrhundert, eine, die sich mit den internationalen Avantgarden der Zeit messen kann. In Österreich erinnert man sich vorzugsweise an Klimt, Schiele und Kokoschka. Was daneben existierte, ist im Bewusstsein der Öffentlichkeit kaum verankert", berichtet Matzer über die vergessene Richtung. Sie war auch klein, umfasste im engeren Kreis zehn Studentinnen. Entstanden ist der Kinetismus unter Franz Cizek, einem viel gerühmten Pädagogen, der an der Kunstgewerbeschule unter anderem My Ullmann, Erika Giovanna Klien und Elisabeth Karlinsky unterrichtete, die die bekanntesten Vertreterinnen wurden.

Der charismatische Böhme mit seinem dicken Schnauzbart leitete den "Kurs für ornamentale Formenlehre". Er unterrichtete nicht frontal, sondern ließ seinen Schülern ungewöhnlich viel Freiraum, es wurde Musik gehört, Theater gespielt, und die Studentinnen konnten zeichnen, was sie wollten. Aus dieser Atmosphäre des Laissez-faire entwickelte sich gegen 1920, was 1922 den Namen Kinetismus - von "kinesis", Bewegung - erhielt. "Interessant ist, dass der Wiener Kinetismus vor allem von Frauen getragen wurde, da die Kunstgewerbeschule im Gegensatz zur Akademie am Schillerplatz von Anfang an auch Frauen aufnahm", so Matzer. Die oft sehr jungen Studentinnen - um die 16 Jahre - stammten fast ausschließlich aus dem Bürgertum, das sich das hohe Schulgeld leisten konnte. Geboten wurde dafür eine Ausbildung in Sticken, Blumen- und Ornamentmalerei, Akt gab es lange nicht. "Für die Frauen wäre es moralisch verderblich gewesen, hieß das Argument", schmunzelt Matzer. "Wurfgeschosse" nennt sie die drei Exzentrikerinnen, die sich als theatralische Figuren inszenierten, allen voran Erika Giovanna Klien, die fast von der Schule geflogen wäre, weil sie einen - sie belästigenden - Kollegen per Metalllineal in die Schranken wies.

Ullmann, Karlinsky und Klien versuchten sich unter Cizek in einer neuen Aufschlüsselung von Bewegungsabläufen. Tanzende Frauen und vor sich hinstampfende Lokomotiven waren beliebte Sujets, die von Expressionismus, Kubismus, Futurismus und Konstruktivismus beeinflusst waren. Die Kinetistinnen liebten Ausdruckstanz, Klien war bei Nackttanz-Vorführungen des Berliner Starlets Anita Berber und ließ die Eindrücke auch in ihre Bilder einfließen.

Nicht nur Grafiken und Ölmalereien wurden angefertigt, die jungen Frauen und wenigen Männer durchliefen eine umfassende Schulung und fertigten auch Modeentwürfe und Stoffmusterskizzen an. Klien, die bekannteste der drei, gestaltete Bucheinbände im Stil des russischen Konstruktivismus: Rote Ringe, schwarze Stäbe, dazwischen die Titel-Buchstaben ausgebreitet.

Klien hielt ihrem Lehrer Cizek ein Leben lang stilistisch die Treue, blieb in engem Kontakt mit ihm, selbst als die innerhalb der Kunstgewerbeschule mehr geduldete als geschätzte Klasse für ornamentale Formenlehre 1925 aufgelöst - und damit ein administrativer Schlussstrich unter den Wiener Kinetismus gesetzt wurde. Ullmann und Karlinsky verfolgten bald getrennte Wege. Klien ging nach New York, Karlinsky zuerst ebenfalls in die USA und letztlich nach Dänemark, Ullmann in die Schweiz und nach Deutschland. Der Kontakt zwischen den Dreien riss ab. Alle waren damals gegen Ende 20, ambitioniert und fest entschlossen von ihren Werken leben zu wollen. Das Wien der Zwischenkriegszeit war wegen Inflation und politischer Polarisierung aber nicht das Terrain, auf dem man als avantgardistische Künstlerin reüssieren konnte.

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