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Kunstberichte

Nitsch in Berlin

Von Stefan May / WZ Online / APA

Im Rahmen der von den Berliner Festspielen und der "Zeit"-Stiftung veranstalteten Sonntagsmatineen unter dem Titel "Berliner Lektionen" war am Sonntag der österreichische Aktionskünstler Hermann Nitsch zu Gast. Anlass ist eine Retrospektive im Martin-Gropius-Bau ab 30. November. "Das Schloss Prinzendorf wird zum Corpus Mysticum seines Leben", erläutert Raue dem mit mehreren hundert Gästen gefüllten, durchwegs wohlwollenden Auditorium.

"Wenn Sie glauben, dass man da ein Blutspritzerl findet, dort ein Därmchen, dann stimmt das nicht. Es ist alles sehr adrett." Peter Raue, Vorsitzender des Vereins der Freunde der Nationalgalerieberichtete von Nitschs erster Aktion 1961 bis zu seinem Orgienmysterientheater "im Allerheiligsten Österreichs, dem Burgtheater#". Zugleich attestierte er Nitsch, "ein Künstler vom Scheitel bis zur Sohle" zu sein, "ein Grantler und Genießer, zutiefst Österreicher, vom Katholizismus geprägt", der auch verschiedene Gefängnisse von innen kenne. "Er ist überzeugt, dass er ein Großer ist", schloss Raue.

Dieser relativierte dies, als er sich breitbeinig aufs Podium hievte: "Ich möchte nicht der Größte sein, ich will wirklich entscheidende Kunst machen", sagte er. Er wolle der Künstler sein, der sich mit dem Erhabensten beschäftigt: "Fleisch und Blut". Sein Leitmotiv sei der Isenheimer Altar in Colmar, mit dem geschundenen Christus auf der einen Seite und dem Auferstandenen auf der anderen. "Das ist für mich das Symbol eines großartigen Hier- und Jetztseins in der Ewigkeit." In seiner Kunst habe ihn die gesamte Kunstgeschichte beeinflusst, sagte der Künstler. "Mit 19 Jahren war ich so vermessen, da wollte ich ein Theaterstück schreiben, das sechs Tage und sechs Nächte dauern sollte."

Dann habe er sich gefragt, warum er nur mit Bildern beschreibe, habe Geruchstäbchen gereicht und Speisen, Flüssigkeiten ausschütten lassen. "Da hat es sich von selbst ergeben, dass ich ein Schaf ausgeweidet habe auf der Bühne." Daraus habe sich ein Gesamtkunstwerk für alle fünf Sinne entwickelt. Seine Aktionsmalerei bezeichnete Nitsch als "visuelle Grammatik meines Theaters". Das Sinnliche steht für den Aktionskünstler nicht im Gegensatz zum Geistigen. Überraschend ist schließlich Nitschs Bekenntnis betreffend seine Dramaturgie, die den "Grundexzess" erreichen wolle: "Ich möchte mit meinem Theater die gesamte Schöpfung darstellen, mit dem Triumph über das Leid. Das ist die Auferstehung." In seinem Schloss in Prinzendorf habe er "viele Verzückungs-, ja Erleuchtungszustände" gehabt, erzählte der Meister. Dort möchte er ein Spiel der Lebensbejahung und der Selbstfindung inszenieren, "das nahezu kultischen Charakter hat".

Damit sei man wieder beim Auferstandenen, sagte Nitsch: "Das Opfer des Fleisches verklärt sich ins Sein." Dann blätterte er in den Unterlagen, schnaufte und sagte: "Jetzt hammas." Das Publikum applaudierte höflich und erstand ein paar Bücher im Foyer, denn der Meister hat mehrmals darauf verwiesen, dass er nun auf der Bühne zu signieren gedenke.

Informationen

  • Nitsch-Retrospektive im Martin-Gropius-Bau (Berlin): 30.11.2006-22.1.2007
  • Galerie Curtze (Berlin): "Hermann Nitsch - Neue Arbeiten" 2.12.2006-8.2.2007

Sonntag, 19. November 2006


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