Eine kleine Sensation
brachte eine Kellerräumung im französischen Kulturinstitut in Innsbruck
vor ein paar Jahren. Da lagerte nämlich unerkannt seit 50 Jahren die
früheste Gruppen-Ausstellung der berühmten Fotoagentur Magnum. Die
Wiener Galerie Westlicht zeigt sie nun – mit Bildern von den
Fotolegenden Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, Inge Morath, Ernst
Haas, Jean Marquis, Werner Bischof, Marc Riboud und Erich Lessing.
Letzterer kann sich an diese Ausstellung zwar nicht erinnern, dafür
aber an sehr viel anderes ...
Wie ist diese Ausstellung aufgetaucht?
Bei
mir hat das Telefon geläutet und jemand hat gesagt, sie haben jetzt im
Keller zwei Kisten mit Fotos gefunden. Ich hab nicht die geringste
Erinnerung. Aber niemand hat an diese Ausstellung die geringste
Erinnerung. Ich finde es sehr interessant, dass man eine komplette
Ausstellung, die 50 Jahre alt ist, findet. Heute würden wir natürlich
ganz andere Bilder aussuchen. Bei meinen sind drei, vier dabei, an die
erinnere ich mich überhaupt nicht. Nach 50 Jahren bekommt man eine
andere Sicht auf die Zeit damals. Das ist das, was mich an der
digitalen Fotografie so beunruhigt. „Delete“ ist das große Schlagwort.
Aufgehoben wird nur das, was ich heute brauche. Morgen wird’s
vielleicht schon gelöscht, weil ich‘s nicht mehr brauche. Beim Karajan
hab ich damals 33 Filme gemacht, also circa 1000 Aufnahmen, für das
Buch haben wir 150 ausgesucht. Die Negative waren im Kühlraum und sind
heute noch genauso gut wie vor 50 Jahren. Bei einem Fotografen, der
heute digital fotografiert, der hat vielleicht sogar 2000 Bilder
gemacht, aber aufgehoben hat er in 50 Jahren dann fünf oder sechs. Wir
werden bald einen Dokumentationsnotstand haben, weil nichts da sein
wird.
War Magnum damals die Elite, als die sie heute erscheint?
1951–52
sollte ich eine Reportage über Deutschland machen. Da hab ich bei der
Münchner Illustrierten angerufen, und der Chefredakteur sagt: „Ah, der
Herr vom Herrenreiterclub“. Da hab ich mir in einem Kostümgeschäft
einen Chapeau Claque ausgeborgt und weiße Handschuhe und bin so
erschienen. Wir waren vielleicht eine Elite, ich will nicht sagen in
unserer Präpotenz, aber in unserer Überzeugung. Und in der von Capa
geschaffenen Idee Magnums, dass wir unsere Auffassung der Reportagen
durchsetzen, dass wir unsere Texte schreiben oder wenigstens die Texte
kontrollieren – ob sie mit unserer Grundhaltung übereinstimmen. Ich bin
sicher zum Teil deshalb dazugekommen, weil ich 1950 die erste Sitzung
des Europarats in Straßburg fotografiert habe. Ich hab mir dann den
Text näher angeschaut und kam drauf, dass der Schreiber sehr
deutschnational, anti-europäisch war, der wollte die Idee Europa gar
nicht, während ich sehr dafür war. Da hab ich gesagt, das erscheint
nicht, meine Stimme ging von zwei auf zehn Dezibel, bis meine
Geschichte so erschienen ist, wie ich es wollte. Dann fuhr ich nach
Paris zu Magnum – Ernst Haas und Inge Morath waren schon da – und kam
in genau dieselbe Atmosphäre.
Was macht den Mythos Magnum heute noch aus?
Wahrscheinlich
diese Unabhängigkeit und dass darunter ein paar Wegbereiter der
Fotografie waren. Ich gehöre zur zweiten Generation, die erste
Generation, Robert
Capa, David Seymour, Henri Cartier-Bresson, war
sicher in Stil sowie Auffassung der Reportage sehr unterschiedlich,
aber in der Qualität ihrer Arbeit einmalig. Capa ist jetzt mehr als 50
Jahre tot und immer noch ein Mythos, ein Symbol. Ernst Haas, der wohl
am unbekanntesten in Österreich ist, hat in der Reportage die Bewegung
erstmals versucht auszuführen und dann auch einen ganz neuen Weg in der
Farbfotografie vorgezeichnet. Dieses Schöpferische ist auch heute noch
da. Wenn die Magnum-Fotografie bei Martin Parr das Gegenteil geworden
ist, ist doch hier wieder eine neue Schöpfung des Zugangs zum Menschen
da. Nach 50 Jahren Magnum zeigt sich, dass die Gruppe noch immer
lebendig ist.
Aber die Umstände haben sich geändert ...
Die
ganze Epoche der Reportage ist zu Ende: 1947–48, wie ich begonnen habe,
gab es im deutschsprachigen Raum 15 Wochenzeitungen. Da gab es einen
französischen Agenten, der hatte zwei riesige Koffer, mit denen kam er
jede Woche aus Paris, die waren voll mit Bildern, da haben sich die
Redakteure draufgestürzt. Vorbei. Es beginnt langsam wieder in den
Zeitungsbeilagen.
Wie kommt man zum richtigen Moment?
Spaßig
war‘s, wie ich bei den großen Konferenzen fotografiert und mich dort
positioniert habe, wo die anderen nicht waren. Das war fast immer der
richtige Moment. Da gibt es das heute noch klassische Bild von de
Gaulle in Algerien, wo ich von oben runter fotografiert habe, das hat
niemand anderer. Da wo alle stehen, das ist nix. Aber das geht heute
nicht mehr. Die Sicherheitsmaßnahmen sind so groß. Das Porträt oder
Ereignis aus dem Moment he-raus, da kommen Sie nicht mehr nahe genug
ran.
Das ist überhaupt ein Problem, dass die Porträtierten so viel mitreden wollen heute ...
Das
Recht am eigenen Bild wird uns noch furchtbare Sachen bescheren: Wenn
Sie auf der Straße ein Bild machen in Amerika, müssten Sie
ununterbrochen vorher fragen, ob der und der damit einverstanden ist.
Sie haben sich immer dagegen gewehrt, dass Sie Fotografie als Kunst machen.
Fotografie
ist ein Handwerk. Wir sind von der Kamera abhängig wie der Maler vom
Pinsel. Es ist ein kompliziertes Handwerk. Nicht jedes Auge sieht.
Schauen muss man lernen, das Auge kann man trainieren. Ob das eine
Kunst ist, will ich dahingestellt lassen, aber es ist wichtig. Schauen
ist etwas sehr Aufregendes. Und ob Sie jetzt schauen in einem Museum
oder im täglichen Leben ist egal.
Sie haben abenteuerliche Kunstfotografien gemacht – unter anderem mit Kopernikus‘ Manuskript ...
Wenn
ich heute zu einem Museumsdirektor gehe und sage: „Wir machen eine
Reportage, und Sie haben das Manuskript vom Kopernikus, wo die Sonne
zum ersten Mal im Mittelpunkt ist, kann ich mir das ausborgen?“, dann
wird er die Polizei rufen und sagen, ich hab da einen Narren ... Als
ich das damals in Krakau gemacht habe, sagte der Direktor: Eine schöne
Idee, ich kann ihnen zwar das Manuskript geben, aber ich muss jetzt
weg. Ich hab zwei Tage mit dem Manuskript unterm Kopfpolster geschlafen
und mich nicht aus dem Hotel getraut. 1960 war ich mit dem Kardinal
Wojtyla in Krakau, mit US-Studenten, der wollte ihnen das Manuskript
zeigen, da lag das unter einem Glassturz, und daneben saß ein Soldat
mit einem Gewehr. Und wieder ein paar Jahre später konnte man nur mehr
das Faksimile sehen, das Original war im Tresor. Und ich bin damals
damit in Krakau spazieren gefahren!
Wie war‘s mit Herbert von Karajan?
Alle
Leute haben mich vor ihm gewarnt, und das hat alles nicht gestimmt. Er
war ein sehr zurückgezogener, fast autistischer Mensch. Ein sehr
angenehmes Arbeitsverhältnis, das mit ein bissl Höflichkeit leicht
herzustellen war. Es gibt ein Bild, wo er von der Balustrade in den
Orchestergraben herunterspringt – und er hat genau geschaut, wo ich
gestanden bin. Er ist sicher nicht oft heruntergesprungen, und er ist
sicher nie heruntergesprungen, wenn kein Fotograf im richtigen Moment
am richtigen Platz wäre. Er hat genau gewusst, was er tut. Wir haben in
der Zeit keine zehn Worte gewechselt, ich war eben da. Ich durfte neben
ihm sitzen während des Konzerts. Er hat genau gewusst, ich mach nicht
klick im Pianissimo, ich habe genau gewusst, wann das Fortissimo kommt.
Dieses Vertrauen haben wir am ersten Tag etabliert. Ich hab kein
romantisches Stück ausgesucht, sondern eins, das laut war. Fidelio geht
sehr gut, Wagner besonders. Da kann ich draufdrücken und es hört
keiner. Schubert ist schon komplizierter. Alle haben erzählt, dass er
Fotografen ohrfeigt – angeblich, weil er in der Konzentration vor dem
Konzert angeblitzt wurde. Ich habe gesagt, da wär ich auch ausgerastet.
Ein Paparazzo-Vorläufer?
Da sind wir
mittendrin im Paparazzo. Nicht denken, nur schnell schießen. Wir haben
dasselbe gehabt bei der ungarischen Revolution, wo ein Fotograf für
einige Tote verantwortlich war. Der hat geblitzt, die Ungarn dachten,
man schießt auf sie und haben zurückgeschossen.
In der Bilderflut mit Handykameras et cetera geht der langsame Blick, wie Sie es nennen, verloren ...
Meine Angst ist, dass das Bedeutende mit dem weniger Bedeutenden gelöscht wird. Dass zu wenig aus unserer Zeit übrig bleibt.
Wo würden Sie sich denn heuer bei der EM zum Fotografieren hinstellen?
Das
geht nicht mehr, sie können nicht mehr neben dem Tor sitzen. Ich würde
vielleicht gar nicht den Rasen, sondern Zuschauer fotografieren. Aber
natürlich, wenn dann so einmalige Sachen passieren, wie der Kopfstoß
vom Zidane, dann wär‘s schon besser, wenn man dort wäre ...