Ein Akrobat des spielerischen Übermuts
Alleskünstler. Schreiben, zeichnen, sprechen, fotografieren, komponieren: Zum 80. Geburtstag von Gerhard Rühm.
GUDRUN WEINZIERL SALZBURG (SN). Der Erotik, der Nacktheit und der Sexualität hat Gerhard Rühm immer breiten Stellenwert eingeräumt. Das zeigt auch seine aktuelle Ausstellung in der Salzburger Galerie Altnöder. Sexuelle Lust ist das Thema, wobei Rühm in zwei Serien ganz verschiedene Methoden der Bildgestaltung anwendet. Ausgangsmaterial sind erotische und pornografische Teilansichten von Frauen aus Illustrierten. Einerseits gibt es eine Serie von Blättern, in denen Rühm die Fotografien mittels feiner, gezeichneter Linien vervollständigt. In einer anderen Reihe von Blättern werden die Körper durch grafische Elemente unterbrochen und wieder zusammengesetzt, Rühm konstruiert und baut sich so seine „Schauflächen“. Titel der Schau in Salzburg ist „Sichtwechsel“ – und übertragen gilt das für das Gesamtwerk Rühms, der heute, Freitag, 80 Jahre alt wird. Auch wegen seiner Vielseitigkeit gilt Rühm als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler des Landes.
Für ihn gibt es die Arbeitsteilung unter den Künsten nicht, Zeichensysteme wie Schrift mit Buchstaben und Interpunktionen, die Sprache mit ihren Lauten, die Noten der Musik, grafische Elemente der Bildkunst, Farben und ihre Werte gehen eine Symbiose ein. Rühm ist Musiker, bildender Künstler und Schriftsteller zugleich.
Der Sohn eines Wiener Philharmonikers studierte Komposition und Klavier, 1952 schuf er seine „Ein-Ton-Musik“. Nach Arnold Schönbergs Verknappung des Themas zum Motiv und Anton Weberns Auflösung des Motivs in Intervallkonstellationen wollte Rühm noch einen Schritt weitergehen: „Ich dachte mir, in einem Ton sind eigentlich die ganzen Töne enthalten. In einem Ton – beispielsweise am Klavier angeschlagen – schwingt das gesamte Total der Musik mit“, sagt er im SN-Gespräch. Breite Bekanntheit brachten Rühm der Umgang mit dem Material Sprache und seine aus der gesprochenen Sprache resultierende „auditive Poesie“, die Lautgedichte, Schüttelreime, Chansons und Hörtexte.
Rühm betont, nach strengen Verfahrensweisen und strikten Regeln vorzugehen, aber er ist auch ein Akrobat des Spielerischen und des Übermuts. So ist nichts eindeutig festlegbar, sondern schillert, berauscht, verwirrt und steuert an den Assoziationen des Zuhörers, Lesers, Betrachters entlang. „Die geschriebene Sprache, als zweiter Strang des Sprachmaterials, führt in der letzten Konsequenz zur visuellen Poesie“, sagt er. Mit Druckbuchstaben oder Zeitungsausschnitten, also fertig vorzufindenden Texten, schuf er „Typocollagen“. „Der Einsatz meiner Handschrift führt andererseits unmittelbar zur Zeichnung“, sagt Rühm.Gegen das Zerstören und Entleeren „Kunst ist eine Symbiose von Zeichensystemen“, sagt Rühm. Seine Sprach- wie Schreibkunst, ebenso seine Zeichenkunst, ist in höchstem Maße sinnlich. Was auf den ersten Blick, das erste Hinhören oder bei flüchtigem Lesen oftmals chaotisch oder sinnentleert wirkt, unterliegt dennoch einer genauen Ordnung – der Künstler nennt sie „demokratisch“. Rühm will mit seinem Überschreiten und Negieren klar umrissener Ausdrucksmöglichkeiten auf den „geistigen Hintergrund einer letzten Einheit zurückkommen und von dort aus wieder neu aufteilen, zuordnen, formen“. Im Schreiben und Sprechen hat er die Syntax aufgebrochen und so das Wort autonom gemacht. Das einzelne Wort hat er weiter in seine Buchstaben und in seine Laute zerlegt. Nicht anarchisches Zerstören oder Entleeren liegt in seiner Absicht, sondern ein positivistischer Ansatz des Erforschens. Rühm bekennt sich ebenso zu einer mystischen Annahme, dass Sinn und Inhalt auch im kleinsten Element nicht verloren gehen, sondern zur Gänze vorhanden sind. Seine neuesten Arbeiten, sie werden Ende März im MUMOK in Wien gezeigt, nennt er „Reizwortzeichnungen“: In ihnen reagiert er zeichnerisch auf ein einzelnes, auf das Blatt geklebte Wort. „Das Adverb ,jetzt‘ ist zum Beispiel ein zentraler Begriff meines Tuns, ein Reizwort. Es macht – im Gegensatz zum konzipierten und von Formideen ausgehenden Arbeiten – das Prozessuale, Spontane und Improvisierte sichtbar.“