Wachs wächst, Wachs schrumpft
Anish Kapoor. Im Museum für angewandte Kunst wird geschossen und geschabt. Der Turner-Preisträger macht Kunst mit Witz.
ERNST P. STROBl WIEN (SN). Das Haus wird seinem Namen gerecht: Im Museum für Angewandte Kunst (MAK) am Stubenring in Wien entsteht angewandte Kunst in Form wachsenden Wachses. Zwanzig Tonnen rotes Wachs in kompakten Röhren warten darauf, an die Wand geschossen zu werden. Anish Kapoor, 1954 in Bombay, das heute Mumbai heißt, geboren, sorgt neben dem Staunen über seine Ideen auch für Amusement. Jede Viertelstunde lädt sein Assistent die Kanone und schießt mit kräftigem Krach ein elf Kilogramm schweres Wachsgeschoss in die Ecke des Raumes. Dort haftet das weiche Material kurz, ein Teil fällt zu Boden, ein Teil bleibt an der Wand kleben. „Shooting into the Corner“ heißt das für das MAK entworfene Kunstwerk lapidar.
Das Kunstwerk „in progress“ wächst weiter, wenn der Meister längst wieder in London sitzt. Man sollte sich die lautstarke Performance nicht entgehen lassen. So wie im großen Saal der rote Haufen anwächst, wird bei den anderen drei Werken von Anish Kapoor quasi in Superzeitlupe das Wachs mit ausgeklügelten Geräten abgeschabt.
Der Bildhauer und Turner-Preisträger Kapoor stellt dem phallischen Schießgerät weibliche Rundformen gegenüber wie etwa bei „Past, Present, Future“. Eine riesige Viertelkugel in Kapoors typischem Blutrot wird Schicht für Schicht abgetragen, die von einem Motor betriebene Stahlplatte braucht für eine Fahrt eine volle Stunde. An der Wand sammelt sich das Material. Im Prinzip ähnlich ist die halbkreisförmige Wachsskulptur „Push-Past II“, die von einem ausgeschnittenen Stahlrechteck abgetragen wird. In einer anderen Ecke im MAK steht ein monumentaler Würfel, gefüllt mit Wachs. Ein rundes Stahlblech schabt das eckige, mit Wachs gefüllte „Gefäß“ innen aus. Diese Kunst bietet lauter „sinnliche Ereignisse von überwältigender physischer Präsenz“, wie es MAK-Direktor Peter Noever bei der Presseführung am Dienstag treffend nannte.
Seit den 1980er Jahren formt Anish Kapoor Skulpturen, die auf abstrakte Weise sehr poetisch und unter anderem von seiner Heimat Indien inspiriert sind. Aber auch Joseph Beuys oder Barnett Newman nennt der liebenswürdige und bescheidene Künstler als Vorbilder.
Dass Kapoor erfolgreich ist, steht außer Zweifel: 1990 vertrat er Großbritannien auf der Biennale in Venedig und erhielt den Preis der Jury, 1991 wurde ihm der Turner-Preis verliehen. Bei der documenta IX im Jahr 1992 war der Raum „Descent into Limbo“ eine Sensation. In der Mitte eines begehbaren Kubus öffnete sich ein schwarzes Loch von scheinbar unendlicher Tiefe in den Erdboden. In der Tate Modern London stellte er mit „Cloud Gate“ 2002 eine 100 Tonnen schwere Stahlskulptur auf, die mittlerweile im Millenniumpark in Chicago zu sehen ist.
Zwanzig Tonnen eingefärbte Vaseline benötigte Kapoor 2003 im Kunsthaus Bregenz für die Installation „My Red Homeland“.
Mittlerweile arbeitet der Bildhauer eng mit Architekten zusammen, in Neapel werden derzeit zwei von ihm konzipierte U-Bahn-Stationen gebaut. Dort verwendet er Stahl. Wenigstens in Wien ist die Welt Wachs in seinen Händen. Bis 19. April kann man die faszinierende angewandte Kunst bei ihrer Veränderung beobachten.Internet: www.mak.at