Salzburger Nachrichten am 4. Oktober 2005 - Bereich: kultur
Alltag schärft den Blick

Die Viennale-Retrospektive "Andy Warhol Filmmaker" gewährt einen Einblick in Andy Warhols Bildfabrik der 60er Jahre. Die Radikalität ist immer wieder verstörend.

PIA FEICHTENSCHLAGERWIEN (SN). Als Einleitung der Viennale '05 widmet das österreichische Filmmuseum in Wien die Retrospektive "Andy Warhol Filmmaker" einer kaum bekannten Schaffensseite Andy Warhols (1928-1987). Bis 31. Oktober konzentriert sich eine von dem US-Filmemacher und ehemaligen Präsidenten der New American Cinema Group, Jonas Mekas, kuratierte Schau auf die Entwicklung der mythenumrankten Pop-Art-Ikone als Filmemacher in den 60er Jahren.

Andy Warhol war zeitlebens ein großer Kinofan. In dem Buch "America" bekannte er: "Ich ging leidenschaftlich ins Kino und hoffte, dass die Filme mir etwas übers Leben beibringen würden." 1963 kaufte Warhol für 1200 Dollar eine Acht-Millimeter-Bolex-Kamera, das Filmen wurde eine Obsession mit ungeheurer Produktivität.

Ein Werk entstand, welches die Vorstellung von Zeit neu definiert und zugleich ein schonungsloses Abziehbild des damaligen (nihilistischen) Zeitgeists darstellt und mit seiner frivolen sexuellen Provokation für Kritik sorgte: Macht, Gier, Naivität, Drogen, Korruption, Perversität, Pornografie, Gewalttätigkeit, Chaos, Wahnsinn und Tod.

Über 100 der legendären Screentests und eine weitere Auswahl von 30 zentralen Arbeiten - von den stummen Minimalfilmen bis zu den "sozialen Experimenten" mit den so genannten "Superstars" - sind in Wien zu sehen.

In seinem Erstling "Sleep" (1963) filmte Warhol seinen damaligen Liebhaber beim Schlafen. Damit brach er die Sehvorgaben des Hollywoodkinos. "Hier hat man nun die Chance, den Star so lange anzusehen, wie man will, ganz egal, was er tut, und ihn zu verschlingen, so viel man will." So lautete Warhols Arbeitsansatz, der von der damaligen Kritik als langweilige "Intelligenzbeleidigung" bewertet wurde.

Verlangsamung schärft die Wahrnehmung Jonas Mekas hingegen sah in dem Konzept der Verlangsamung der Wahrnehmung eine "Transformierung und Intensivierung von Alltäglichem, das den Blick auf die Welt schärft". Deswegen liefert Warhol einen wichtigen Beitrag für das Underground-Kino. Mekas war auch an dem bekanntesten Warhol-Film, "Empire" (1964), in dem das Empire State Building vom Zwielicht bis zum Morgengrauen über acht Stunden lang mit einer Einstellung beobachtet wird, beteiligt.

Das verbleibende Material verwendete Warhol, um den Kurator und Kunstmäzen Henry Geldzahler, auf der Couch der Factory sitzend, zu filmen. Nachdem Warhol die Kamera positioniert hatte, ließ er diesen mit der Kamera allein, und der Gefilmte kehrte sein Inneres nach außen. Später wird er Warhol als "Sado-Voyeur" beschimpfen.

Die Zuschreibung des "negativistischen Voyeurs" wurde auch durch den Umstand gespeist, dass viele der Auftritte der Darstellerinnen und Darsteller in Andy Warhols Filmen unter dem Einfluss von Drogen standen und Warhols Regiearbeit von emotionaler Passivität gezeichnet war. Unzufriedene Mitarbeiter bezeichneten ihn unter anderem als "Drella", eine Ableitung von Dracula und Cinderella. Der Vorwurf der Ausbeutung von Menschen wurde dadurch genährt, dass Warhol seine "Stars" für ihre Filmarbeit nicht bezahlen wollte.

Eine Reihe von Lectures widmet sich vom 15. Oktober bis 23. Oktober der widersprüchlichen Künstlerfigur, dessen meistzitierter Ausspruch lautet: "Wenn Sie alles über Andy Warhol wissen möchten, schauen Sie nur auf die Oberfläche meiner Bilder, meiner Filme und von mir selbst, und da bin ich. Dahinter ist nichts."

Jack Smith, Taylor Mead, Ronald Tavel, Ondine, Joe Dallessandro, Edie Segwick, Viva oder Ingrid Superstar heißen die Warhol-"Stars", die ihre Performance darbieten. Auch Lou Reed, Nico, Salvador Dalí und der Kurator Jonas Mekas stellten sich der starren Kamera. Die Teilnehmer sollten niemand anderes sein als sie selbst. Die "Sexploitations"-Filme wie "My Hustler", "Bike Boy" oder "I, a Man" entstanden unter dem Prinzip der künstlichen Wirklichkeit. Letzterer sollte Nachwirkungen auf Warhols weitere Biografie haben. Eine der Schauspielerinnen von "I, a Man", die Ultrafeministin Valerie Solanas, schoss am 3. Juni 1968 in der Factory auf Warhol, der nur knapp überlebte.Information: www.filmmuseum.at