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23.07.2005 - Kultur&Medien / Kultur News
Warschau: Stalins ungewollte Morgengabe
VON THOMAS ROSER
Kulturpalast. Nach 50 Jahren hat das Geschenk an Warschau Kultstatus erlangt.

Unübersehbar - wie er selbst ist - trägt der Jubilar sein Alter zur Schau. "Ich bin 50" verkündet ein Plakat auf der ergrauten Sandstein-Fassade des Hochhaus-Kolosses. Wie eine etwas zu groß geratene Geburtstagstorte wirkt der klobige Kulturpalast, der das von Straßen und Parkflächen zerfurchte Zentrum Warschaus seit einem halben Jahrhundert überragt. Lange schieden sich an der wuchtigen Morgengabe des Sowjetdiktators Josef Stalin in Polens Hauptstadt die Geister. Für ältere Bewohner ist der Palast bis heute das verhasste Symbol sowjetischer Fremdherrschaft geblieben. Doch die Stimmen, die nach der Wende 1989 den Abriss von "Stalins Kathedrale" forderten, sind verstummt: Die Warschauer haben sich mit dem ungewollten Geschenk versöhnt.

Einen Beitrag zum Wiederaufbau der von den Deutschen völlig zerstörten Stadt hatten die Sowjets den Warschauer Stadtvätern Ende des Zweiten Weltkriegs in Aussicht gestellt. Die heimliche Hoffnung, von dem Bruderstaat mit neuen Wohnvierteln oder einer Metro beglückt zu werden, mussten die Stadtplaner 1951 jedoch begraben. Schon vor der Visite des sowjetischen Außenministers Wjatscheslaw Molotow wurde Chef-Architekt Jozef Sigalin instruiert, positiv und keinesfalls überrascht auf den Geschenk-Vorschlag des Gasts zu reagieren: den Bau eines Wolkenkratzers nach Moskauer Vorbild, der die "unerschütterliche Freundschaft" zwischen der Sowjetunion und Polen symbolisieren sollte.

Eine Wahl wurde den Beschenkten nicht gelassen. "Gut, warum nicht?", reagierte Sigalin wie gewünscht freudig. Unter den prüfenden Augen des sowjetischen Botschafters wurde auf dem Ruinenfeld des einstigen Ghettos bereits im Juli 1952 der erste Beton in die Baugrube gegossen: Ausgerechnet Stahlplatten aus dem Wrack des deutschen Panzerkreuzer Gneisenau sollten das Fundament des neuen Symbols des sozialistischen Polens stärken.

In drei Jahren stampften 3500 russische und 3000 polnische Arbeiter den 230 Meter hohen Turm nach dem Entwurf des sowjetischen Architekten Lew Rudnew aus dem Boden. Viele polnische Maurer verweigerten indes den Arbeitseinsatz aus Höhenangst. 16 russischen Arbeiter stürzten auf der Baustelle zu Tode, sie liegen bis heute auf dem orthodoxen Friedhof von Warschau begraben. Auch der eigentliche Initiator des Palasts sollte dessen Fertigstellung nicht mehr erleben. Als Josef Stalin am 5. März 1953 verstarb, schallten Trauermusik und Gedenk-Ansprachen über die Baustelle: Zwei Tage später gab Polens Regierung bekannt, Warschaus neues Wahrzeichen solle nach dem verstorbenen Stifter benannt werden.

Im Schreibtisch von Hanna Szczubelek im 15. Stockwerk lagert heute noch die goldene Schere, mit der Polens Premier Jozef Cyrankiewicz am 22. Juli 1955 das Band zur Eröffnung des "Palasts der Kultur und Wissenschaften im Namen Josef Stalins" durchschnitt. Eigentlich sei die Funktion des Palasts dieselbe geblieben, versichert die 64-jährige Haus-Chronistin: Bis heute beherberge er wissenschaftliche Institute, Museen, Theater, sei Schauplatz von Konzerten und Ausstellungen. Nicht nur die Gastspiele des internationalen Show-Geschäfts - von Marlene Dietrich bis zu den Rolling Stones - hat Szczubelek in 45 Berufsjahren fein säuberlich in ihrer Palast-Chronik notiert.

Ein französischer Lebensmüder war 1956 der Erste, der sich von der Aussichtsterrasse im 30. Stock zu Tode stürzte. Sieben Selbstmörder sollten folgen, bevor die Palastverwaltung den Balkon vergittern ließ. "Hier geht's aber tief runter", zeigte auch der erste Mensch im All, Sowjetkosmonaut Juri Gagarin, auf dem Balkon überraschende Höhenangst: Das Modell seiner Weltraumkapsel ist ebenso wie ein Fiat Polski noch im Technik-Museum des Palastes ausgestellt.

Die Lettern mit Stalins Schriftzug wurden bereits 1956 vom Hauptportal entfernt. Dennoch behielt "Stalins Torte" zu sozialistischen Zeiten ihre Prestige-Funktion. Ob Nehru, Ho Chi Minh, Ulbricht, Breschnew oder der Papst: Der Besuch des Kulturpalasts war für Staatsgäste Pflicht. Außer den zwei Dutzend Palast-Katzen, die die Mäuse vertreiben sollen, ist im Keller auch noch die Tribüne mit den 52 Plätzen für das Parteipräsidium zu sehen: Per Hydraulik wurde sie bei Parteitagen auf die Bühne gehievt.

Ausgerechnet während der bleiernen Zeit des Kriegsrechts und des Verbots der Solidarnosc entpuppte sich der Palast als fruchtbarer Hort. In jedem Stockwerk war damals rund um die Uhr ein Soldat stationiert. Den öden Wachdienst wussten sich manche mit intensivem Kontakt zu den Liftdamen zu verkürzen: Auf Anordnung ihres über die zahlreichen Schwangerschaften erzürnten Generals wurden schließlich mehrere "Palasthochzeiten" geschlossen.

"Wo hat man den schönsten Blick auf Warschau? Vom Kulturpalast - denn so sieht man ihn nicht", lautete zu sozialistischen Zeiten ein Witz über das steinerne Ungetüm. Nach der Wende von 1989 schien das Schicksal des Palastes ungewiss. Manche Solidarnosc-Anhänger plädierten für den Abriss. Ein Millionär aus den USA wollte ihn abtragen und zu Hause aufbauen lassen. Doch nicht nur die neu installierte Turm-Uhr, auch die gesichtslosen Bürotürme, die das höchste Gebäude des Landes in den 90er Jahren zu umrahmen begannen, ließen die Warschauer versöhnlicher auf ihr lange verschmähtes Stadtsymbol blicken.

Auf den Schautafeln der Ausstellung "Warschau der Zukunft" ist der Kulturpalast als Mittelpunkt neuer Einkaufszentren und Museen zu sehen: Längst wird an der Weichsel nicht mehr sein Abriss, sondern die bessere Einbindung in das Zentrum der Stadt diskutiert. Doch das einstige Aufmarsch-Gelände vor den Toren des Palastes bietet ein eher trostloses Bild. Auf verwahrlosten Parkbänken warten Obdachlose auf die Armenspeisung. Zwischen Betonplatten sprießt das Gras. Nachts allerdings wirkt der graue Bau nahezu majestätisch.

Nicht nur für Nachtschwärmer, die bei Hiphop-Konzerten im Klub Kulturalny bis in die Morgenstunden auf knallbunten Plastiksofas ihr Bier schlürfen, ist der Palast mit seinen Kronleuchtern und wuchtigen Arbeiter-Reliefs zum Kult geworden. Die Filmsäle der Kinoteka werden von Cineasten als behagliche Alternative zu den anonymen Kino-Zentren an den Ausfall-Straßen geschätzt. Im Sommer steigen vor dem Palast Freiluft-Konzerte, donnern Skateboardfahrer durch die Halfpipes oder messen Basketball-Teams ihre Kräfte. Im Winter tänzeln Eisläufer über den Vorplatz. Der Palast habe "einfach Charakter", erklärt Hanna Szczubelek die wieder gewonnene Popularität: "Für die meisten Warschauer ist er heute das wahre Wahrzeichen der Stadt."

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